Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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227. Der Schmetterling im Hagelkorn

Quellen: Moritz Loeb, Aufsatz: »Schneekristalle« in dem Werk »Die Wunder der Natur«, Deutsches Verlagshaus Bong & Co., Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart, 1912. Z. – Professor Carl Kaßner: »Das Reich der Wolken und Niederschläge«. Verlag Quelle & Meyer, Leipzig, 1909.

Vor einigen Jahren hatte man Gelegenheit, den gewiß seltsamsten Sarkophag zu beobachten, den jemals ein Lebewesen gefunden. Man fand nämlich in einem großen Hagelkorn den Leib eines Schmetterlings eingeschlossen.

Das Phänomen des Hagels entsteht, wenn stark mit Wasserdampf gesättigte warme Luft in einem sehr rasch aufsteigenden Wirbel plötzlich in hohe Regionen emporgeführt wird. Es tritt dann reichliche Kondensation ein, doch infolge des raschen Aufstiegs bleiben die Wassermassen noch in flüssiger Form, wenn sie sich schon in Temperaturen befinden, die weit unter dem Gefrierpunkt liegen. Sie sind »überkaltet«. Es genügt dann aber der geringste Anstoß, um die Tröpfchen sofort zum Gefrieren zu bringen.

316 „Die Wassertröpfchen erstarren zu strukturlosen Eisklümpchen, die durch ihre Schwere herabfallen und sich dabei teils auf dem Weg mechanischer Berührung durch Zusammenfrieren, teils beim Durchgang durch tiefer liegende, überkaltete Wolkenschichten vergrößern, um als Graupelkörner zur Erde zu gelangen. Bei der Erstarrung der überkalteten Nebelbläschen zu Eis wird jedoch gebundene Wärme frei, die sich der umgebenden Luft mitteilt und damit deren Temperatur rasch erhöht. Da aber erwärmte Luft leichter als kalte ist, so setzt sich der aufwärts gerichtete Luftstrom fort und reißt die bereits im Fall begriffenen, durch Abschmelzen schon wieder mit Wasser umhüllten Graupelkörner aufs neue empor, bis sie abermals in überkaltete Schichten gelangen, in denen sich ein weiterer Eisring um den Graupelkern legt. Je häufiger sich dieses Spiel wiederholt, desto größer werden die Eisklümpchen, bis sich schließlich um den undurchsichtigen Graupelkern mehrere Eishüllen gelagert haben. Erreicht der aufsteigende Strom, der diese Eisstücke mit sich führt, den oberen Rand der Wolke, d. h. vermag die immer dünner werdende Luft die Last nicht mehr schwebend zu erhalten, so fällt sie vermöge ihres Gewichts zu Boden: es hagelt.”

Jener Schmetterling im kristallenen Sarkophag ist also wahrscheinlich von einem gewaltigen Luftstrom mit in die Höhe gerissen worden, bis er in eine überkaltete Wolkenschicht geriet. Dort gab er als »Kondensationskern« den Anstoß zum raschen Gefrieren, und der arme Falter, der auf Sturmesflügeln bis in Höhen getragen worden war, in die ihn seine zarten Schwingen niemals hätten bringen können – wahrscheinlich 12 000 Meter – stürzte in einer Eishülle zur Erde.

Auch andere seltsame Hagelkornbildungen sind hier und da beobachtet worden. Am 30. Mai 1897 fielen in Seaford Schloßen so groß wie wohl ausgewachsene Pflaumen; hier und da waren mehrere Stücke noch zusammengefroren. Quenisset sah während eines Wintergewitters bei Paris riesige Hagelkörner niedergehen, von denen einige die Größe von Apfelsinen erreichten. In Morgan-Town im südamerikanischen Staat West-Virginia fand man ein Hagelkorn, das ganz regelmäßig wie ein Korkenzieher gedreht und 5 Zentimeter hoch war.

In Steiermark sind Hagelstücke bis zu 5 Pfund Gewicht beobachtet worden; sie waren mit Spitzen von zwei bis vier Zentimetern Länge so dicht besetzt, daß sie stacheligen Kugeln glichen. Ein am 3. Juli 1897 in derselben Landschaft niedergegangenes Hagelwetter zerschlug Dachziegel und Dachlatten, einzelne Stücke drangen einen halben Meter tief in den Boden ein.

Professor Kaßner beobachtete am 15. August 1900 einen Hagelschlag in und um Rustschuk in Bulgarien, durch dessen Wirkung in zehn Minuten 50 000 Fensterscheiben zertrümmert, zehn Häuser und zwei Türme schwer 317 beschädigt, für 100 000 Mark Schaden an Garten- und Feldfrüchten, für eine Million Mark Schädigungen an Weinbergen angerichtet wurden. Der allein in Preußen, einem ziemlich hagelarmen Land, jährlich durch Unwetter dieser Art angerichtete Schaden beläuft sich auf durchschnittlich 25 Millionen Mark.


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