Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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53. Der kluge Hans

Mit vollkommener Skepsis, also in scharfem Gegensatz zu den im vorigen Abschnitt wiedergegebenen Ansichten, betrachtet der bedeutende Berliner Psychologe Dr. Albert Moll die denkenden Pferde. Über eins solcher Pferde, dessen Leistungen lange Zeit hindurch in ganz Berlin Tagesgespräch waren, schreibt er:

„»Das lesende Pferd«, »Das Wunderpferd«, »Der kluge Hans«, »Das rechnende Pferd«, so lauteten die Überschriften von großen Zeitungsartikeln im Jahre 1904. Ein Berliner Pferdeliebhaber, Herr von Osten, glaubte, daß man ein Pferd in ähnlicher Weise wie den Menschen unterrichten könne. Die Leistungen des Pferds waren nach einem damaligen Bericht die folgenden: das Pferd beherrschte die Zahlenreihe von 1 bis 100 mit absoluter Genauigkeit, es konnte bis zu 100 Gegenständen zählen, es löste Rechenaufgaben aller vier Spezies, verstand auch mit Brüchen zu rechnen und Wurzeln zu ziehen, es konnte lesen, kannte das Zifferblatt der Uhr, es unterschied die Farben, auch Akkorde und Melodien, es kannte Spielarten, Münzen und manches andere.

Damit der kluge Hans das, was er kannte, verständlich machen konnte, mußte er natürlich gewisse Zeichen geben. Dies geschah durch Klopfen mit dem 78 rechten Fuß. Wenn man also fragte: »Wieviel ist drei mal zwei?«, so klopfte Hans sechsmal mit dem rechten Fuß. Wenn man ihn fragte: »Wieviel ist 600000:30000«, so klopfte er zwanzigmal. Eine Kommission von Sachverständigen hat damals den klugen Hans geprüft, und die Sachverständigen gaben ein Gutachten dahingehend ab, daß der Fall mit Dressur nichts zu tun habe, und daß das Vorhandensein unabsichtlicher Zeichen von der gegenwärtig bekannten Art als ausgeschlossen gelten müsse, ja das Gutachten erklärte sogar, daß die Methode des Herrn von Osten von Dressur wesentlich verschieden und dem Volksschulunterricht nachgebildet sei.

Die ganze Methode und Unvorsichtigkeit, mit der damals an die Frage herangegangen wurde, ist umso bemerkenswerter, als solche rechnenden Pferde auch schon früher gezeigt wurden, so z. B., wie ein erhaltener Zettel ergibt, bereits im siebzehnten Jahrhundert. Wenn man weiter bedenkt, daß der kluge Hans den Namen Bethmann mit th buchstabierte, daß er einen auf ow endenden Namen, da er offenbar wußte, daß das w stumm war, richtig buchstabierte, mußte die Sache noch umso mehr auffallen. Als ein Polizeileutnant und ein Oberleutnant anwesend waren, hat der kluge Hans auf die Frage, wieviel Offiziere anwesend seien, nur einen angegeben. Es wurde damals erklärt, daß der Polizeileutnant nicht Offizier im landläufigen Sinn des Worts sei.

Als ich (Moll) Gelegenheit hatte, den klugen Hans zu prüfen, stellte es sich heraus, daß das Pferd, wenn ihm Fragen gestellt wurden, deren Antwort der Fragende nicht kannte, vollkommen versagte. Trotzdem haben sich damals Gelehrte, Pferdekenner und natürlich tausende von Laien über die Rechenkünste des klugen Hans den Kopf zerbrochen. Förmliche Völkerwanderungen fanden statt, um das Wundertier zu sehen.

Wunderbar waren dabei zwei Sachen: 1. daß ernste Männer ohne alle wissenschaftlichen Vorbedingungen an die Prüfung herangingen, und 2. daß der kluge Hans ganz minimale Zeichen, die der hinter ihm stehende Heer von Osten offenbar unabsichtlich gab, vollständig verstand. Sobald das Pferd klopfen sollte, bückte sich der hinter ihm Stehende unwillkürlich, und wenn es mit dem Klopfen aufhören sollte, hob der Fragende, ohne es zu merken, den Kopf leicht in die Höhe. Es war interessant, auf wie feine Zeichen das Pferd damals reagierte. Es ist Pferdekennern längst bekannt gewesen, daß man Tiere dazu bringen kann, überaus feine Zeichen zu verstehen. Wenn man also den klugen Hans fragte: »Wieviel ist dreimal sechs?« so bückte sich der hinter ihm Stehende unwillkürlich etwas, und nun begann der kluge Hans zu klopfen, bis er 18 mal geklopft hatte, worauf der hinter ihm Stehende ganz ohne Absicht den Kopf etwas hob. Diese feine Dressur hat selbst Männer der Wissenschaft dazu gebracht, solche 79 Zeichen in Abrede zu stellen, ja zu vermuten, daß ein Pferd wirklich Brüche und ähnliches rechnen könne.

Wunderbar war ferner der Umstand, daß Männer der Wissenschaft und auch Pferdekenner das nicht wußten, was jedem Droschkenkutscher bekannt ist, nämlich daß das Pferd außerordentlich weit nach hinten sieht. Wenn der Droschkenkutscher nur die Peitsche leicht hebt, so sieht das Pferd dies; die Männer der Wissenschaft aber glaubten damals, daß das Pferd, wenn sie hinter ihm standen, die Zeichen nicht bemerke.

Nachdem ich seinerzeit auf diese Fehlerquelle hingewiesen hatte, wurden neue Prüfungen vorgenommen, und es stellte sich heraus, daß das Pferd in der Tat ausschließlich auf einfache Zeichen hin jene vermeintlichen Leistungen, die es nach den Ansichten Einiger auf die Stufe eines Obertertianers brachten, vollbracht hatte. Von eigener Begriffsbildung und Kombination war natürlich gar nicht die Rede.”


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