Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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44. Die Knochen als Ingenieurbauten

Quelle: Dr. Richard Hesse: »Der Tierkörper als selbständiger Organismus«, erster Band des Werks: »Tierbau und Tierleben in ihrem Zusammenhang betrachtet« von Dr. Richard Hesse und Dr. Franz Doflein. Verlag von B. G. Teubner, Leipzig und Berlin, 1910.

Wenn der moderne Ingenieur einen Kran, eine Brücke oder eine Bahnhofshalle aus Eisen aufbaut, so türmt er sie nicht aus massiven Säulen und vollen Blöcken empor, sondern er verwendet Hohlzylinder und ein Flechtwerk aus Einzelbälkchen. Erfahrung und mathematische Berechnung haben gelehrt, daß ein massiver Körper bei Belastung durchaus nicht in allen Teilen gleichmäßig beansprucht wird, sondern daß Zonen höchster Beanspruchung mit solchen abwechseln, in denen gar keine Belastung stattfindet. Die Hohlpfeiler besitzen fast dieselbe Tragfähigkeit wie massive Säulen. Ein Gerüstwerk trägt, wenn es richtig konstruiert ist, fast eben so viel wie volle Blöcke. Als Last aber fallen Hohlpfeiler und Gerüste viel weniger ins Gewicht.

Diese Verhältnisse waren in der Theorie bereits wohlbekannt und wurden in der Praxis schon längst angewendet, als man entdeckte, daß beim Skelett der höheren Wirbeltiere das Material genau nach den Gesetzen der Mechanik angeordnet ist. Die langen Knochen des Skeletts, die als Strebepfeiler wirken, wie Arm- und Schenkelknochen, sind Hohlpfeiler, denn das Innere ist mit Knochenmark oder, bei den Vögeln, mit Luft gefüllt. Die Bälkchen, die sich in den Gelenkköpfen befinden, sind nicht regellos geordnet, sondern ihr Verlauf wird durch die Beanspruchung der betreffenden Skeletteile bedingt. Sie fallen in die Richtung der Druck- und Zuglinien, in denen die in den Knochen angreifenden Lasten und Kräfte wirksam sind. So wirkt z. B. der Schenkelhals des Oberschenkels wie der Tragbalken eines Krans. Wenn man für einen ähnlich gestalteten Kran mit gleicher Belastung die Druck- und Zuglinien konstruiert, so findet man, daß sie den Richtungen der Bälkchenzüge im Schenkelhals entsprechen.

Diese auffallende Struktur ist jedoch nicht einfach ererbt, sondern ihre Entstehung steht mindestens zum großen Teil unter dem unmittelbaren Einfluß der Beanspruchung. Denn wenn z. B. bei einem falsch verheilten Knochenbruch die Beanspruchung des Knochens von der normalen abweicht, und somit die Druck- und Zuglinien nicht mehr mit der Richtung der Knochenbälkchen zusammenfielen, so kommt es im Gelenkkopf zu Umbildungen, die nach einiger Zeit den mechanisch geforderten Zustand wieder herstellen. Der Knochen wird durch Erneuerung seiner inneren Architektur wieder funktionsfähig. 65


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