Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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65. Geschöpfe nach Willkür

Quelle: Dr. Curt Thesing: »Experimentelle Biologie«. Verlag von B. G. Teubner, Leipzig, 1911.

Der Mensch kann im Laboratorium als Hervorbringer neuer Arten auftreten; er vermag mit schneidenden Werkzeugen und Nährflüssigkeiten lebende Wesen hervorzubringen, die sich den bestehenden Kategorien in keiner Weise einordnen, ja nach Jacques Loeb, dem bedeutenden Biologen des Newyorker Rockefeller-Instituts, wird ihm einmal die künstliche Herstellung der Lebewesen von Grund auf gelingen.

Einstweilen sind die heute schon vorhandenen Ergebnisse erstaunlich genug, einige davon, von Curt Thesing in seiner »Experimentellen Biologie« mitgeteilt, geradezu verblüffend. Einige Proben aus diesem Werk mögen als Belegstücke dienen.

Als das klassische Versuchskaninchen dient schon seit den Arbeiten Trembleys im Jahre 1740 der Süßwasserpolyp Hydra viridis. Verschiedene kunstgerechte Schnitte werden durch seinen Körper geführt, und der Teil ergänzt sich immer wieder zum lebenden Ganzen. Selbst bei einem in vier Längsstreifen zerlegten Polypen vermag noch jeder Teil ein neues Tier mit raschem Wachstum hervorzubringen.

Durch einen Kunstgriff wird es möglich, Mißbildungen zu erzeugen, die einen Philosophen mit seiner alten Frage nach dem »principium individuationis« in Beängstigungen versetzen müssen. Wird beispielsweise der trennende Schnitt nur bis zur halben Länge des Polypen geführt und eine Vereinigung der Flächen verhindert, so ergänzt jede einzelne Hälfte den Defekt selbständig: das Resultat ist ein zweiköpfiges Tier. Auf diese Weise gelingt es, durch weitere Spaltung Bildungen mit drei, vier, acht und mehr Köpfen zu erzielen. Es läßt sich auch bewirken, daß die Köpfe wieder zusammenwachsen.

Vorausgesetzt, daß der Kopf der Sitz des Bewußtseins ist, wo fängt hier das Individuum an, wo hört es auf? Man könnte an einen Übergriff des Hexeneinmaleins in die Biologie glauben!

Altererbte Vorstellungen werden umgeformt, ja noch mehr: die Zeit wird 93 rückläufig gemacht. Ein gewisser Eingriff bei der Seescheide Clavellina bewirkt, daß deren bereits selbständig entwickelte Zellen ihre Organisation verlieren, zu einem formlosen Klumpen zusammenschmelzen, um dann aus anscheinend embryonalem Zustand einen neuen Entwicklungszyklus zu beginnen. Das erscheint geradezu als eine Umkehrung der Lebensvorgänge.

Wundflächen eines Regenwurms werden mit Flächen eines anderen Regenwurms kombiniert und zur Verheilung gebracht. Man erzwingt sogar an der hinteren Wundfläche eines Kopfs die entsprechende Ergänzung. In einem Fall entwickelte sich neues Material, das sich aber nicht, wie man hätte erwarten müssen, zu dem fehlenden Hinterende, sondern zu einem neuen Kopf umformte!!

An der Larve der Knoblauchskröte erzeugte Tornier durch ein besonderes Verfahren sechs gut ausgebildete Hinterbeine.

Auf dem Weg der Transplantation wurden Vögel umgeformt. Der Forscher Gutrie entnahm einem schwarzen Huhn seinen Eierstock und pflanzte ihm dafür die Keimdrüse eines weißen Huhns ein. Von einem Hahn schwarzer Rasse befruchtet, erzeugte die Henne eine Nachkommenschaft, in der sich etwa zur Hälfte weiße, zur Hälfte schwarze Kücken befanden. Bei Veränderung der Farbenordnung ergaben sich weiße, schwarze und schwarzweiß gefleckte Nachkommen.

Die durch die Operationen, wenigstens bei den niederen Tieren, erzeugten Schmerzempfindungen sind anscheinend nicht mit dem üblichen, an unsere eigenen Gefühle anklingenden Maßstab zu messen. Hierfür spricht deutlich das Verhalten der Individuen bei zahlreich beobachteten Selbstverstümmelungen. Gut gehaltene und scheinbar gesunde Laubheuschrecken und Maulwurfsgrillen beginnen ohne ersichtlichen Grund, langsam und gleichgültig, sich selbst aufzufressen. Zuerst werden die Füße und Beine angekaut, alsdann bei Weibchen der Legestachel, und endlich beginnt die Fresserei am eigenen Hinterleib. Bei dieser Selbstaufzehrung verraten die Tiere nicht das mindeste Unbehagen. Im Gegenteil werden die Beine z. B. – nach Riggenbach – mit einer wahren Passion gekaut. Auch in dieses Verhalten spielt die gefährliche Frage der Individuation hinein. Das einzelne Glied tritt dem Gesamtorganismus gegenüber als etwas Fremdes auf, und ehe nicht größere Klarheit über solche Bewußtseinsspaltung gewonnen wird, kann eine Lösung der vorerwähnten Operationsrätsel nicht einmal versuchsweise gewagt werden. 94


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