Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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174. Wie platzt eine Bombe?

Quelle: Alexander Moszkowski, gleichnamiger Aufsatz in der Naturwissenschaftlichen Rundschau des »Tag« vom 28.6.1916. Z.

„Man kann diese Frage im ersten Anlauf verschieden beantworten: sie platzt, wie sie will, regellos, nach Willkür des Zufalls, oder auch: sie unterliegt den explodierenden Kräften, die sie je nach den Widerständen des Metallmantels auseinanderreißen.

So oder so: der Zusammenhang ist gelöst, und wenn die Bombe bis zum Augenblick der Sprengung an eine bestimmte Flugbahn gebunden war, so verfolgen die einzelnen Sprengstücke nunmehr ihre eigenen Wege; nichts hält sie mehr zusammen.

Es wird sich das Überraschende ergeben, daß diese Ansicht den Tatsachen widerspricht, daß die einzelnen Sprengstücke einen genau nachweisbaren Zusammenhang bewahren; ja, noch mehr: daß sie in gewissem Sinn die ursprüngliche Flugbahn fortsetzen.

Die Mechanik bewirkt hier etwas anscheinend ganz paradoxes: die Explosion, die den Mantel zerreißt, ist nicht imstande, die Flugbahn zu zerstören, im Gegenteil: sie erhält sie mit peinlicher Genauigkeit und zwingt die zerstreuten Teile, ihr zu gehorchen.

Und hieraus wird weiterhin folgen: die Bombe kann garnicht nach unbedingter Willkür platzen. Nur ein Bruchteil des geometrisch Denkbaren wird auch mechanisch möglich. Stellen wir uns einen Kriegsmaler vor, der die in der Luft platzende Bombe darstellt. Oft genug ist dieser Vorgang mit Stift 237 und Pinsel festgehalten worden, und jeder einzelne Fall entspricht gewiß dem allgemeinen Kriegsbild, wie es dem Künstler aus Anschauung oder Phantasie vorschwebt. Auch der Beschauer wird in der Regel nichts daran auszusetzen finden. Und doch kann man mit größter Bestimmtheit behaupten: so wie es sich im Bild darstellt, ist es in der Natur unmöglich. Es wäre der unwahrscheinlichste Zufall von der Welt, wenn der Maler gerade diejenige Anordnung getroffen hätte, die von der unfehlbaren, auf ganz Bestimmtes gerichteten Mechanik den Sprengstücken vorgeschrieben wird.

Wenn es im »Faust« heißt: »Die Hölle selbst hat ihre Rechte« – so behält dieses Wort im Fegefeuer sausender Granaten seine Gültigkeit; das zugrunde liegende Gesetz erstreckt sich auf alles, was geworfen, geschleudert, geschossen, gefeuert wird. Es lautet ganz einfach:

Der Schwerpunkt bleibt unter allen Umständen erhalten.

Platzt das Projektil in der Luft, so hört der Schwerpunkt darum nicht auf zu existieren. Er besteht vielmehr unverändert zu Recht, als ein wissenschaftlich zu bestimmender Punkt im Raum; außerhalb der einzelnen Splitter, aber nicht außerhalb ihrer Gesamtheit. Und dieser Schwerpunkt fährt fort, die dem Geschoß ursprünglich eingeprägte Bahn zu beschreiben. Danach haben sich die Stücke auch nach der Lösung ihres materiellen Zusammenhangs unweigerlich zu richten. Man kann auch hier wie bei dem Rosen- und Palmenwunder im Abschnitt 85 von einem »vielfach zerteilten Individuum« sprechen.

Die Stücke dürfen also keine Sonderbahnen einschlagen, die dem gemeinsamen Schwerpunkt sein Vorhaben vereiteln. Sie bleiben korrespondierende Mitglieder unter dem Zwang eines Statuts, das ihnen die einzige Verpflichtung auferlegt: für das ungehinderte Fortkommen ihres Schwerpunkts zu sorgen.

Man kann sich der Sache bildlich durch ein Gleichnis nähern, das zwar wie alle Gleichnisse hinkt, aber doch eine gewisse Anschaulichkeit gewährt, wie bei Gellert der Hinkende auf dem Rücken des Blinden. Eine zu bestimmten Zwecken tagende Gesellschaft, eine Generalversammlung, wird durch ein unvorhergesehenes Ereignis auseinandergesprengt, etwa durch ein plötzlich ausbrechendes Feuer. Die Mitglieder stieben auseinander, bleiben aber durch die Interesseneinheit auch ferner verbunden: ihr gemeinsamer Schwerpunkt wird durch die örtliche Zersprengung des Augenblicks weder vernichtet noch verschoben. Selbst wenn das Tagungsprotokoll verbrannt wäre, würde das Gedächtnis der Versprengten ausreichen, um diese Einheit aufrechtzuerhalten.

So besitzen auch die Sprengkörper der Granate ein Gedächtnis für ihre ursprüngliche Einheit, für den gemeinschaftlichen Schwerpunkt; nach Aristotelischer Auffassung: sie »suchen« ihre Stelle. Sie bleiben Teile eines Systems 238 wie die Planeten, Kometen und Meteore des Sonnensystems, das sich als Ganzes nach einem bestimmten Punkt im Weltenraum, nämlich nach dem Sternbild der Leier hin bewegt. In dieser Bewegung scheint Willkür zu herrschen, da der Momentwille eines Monds, einer einzelnen irrenden Sternschnuppe ganz gewiß nicht der großen Hauptrichtung entspricht. Aber ein geheimer Zwang bändigt auch diesen Eigenwillen der Splitter. Sie alle zusammen verharren unter der Diktatur ihres gemeinsamen Schwerpunkts, und dieser bewegt sich auf unverrückbarer Linie nach dem Sternbild der Leier.

Es gibt in solchen Systemen keine grundsätzliche Trennung. Der gemeinsame Schwerpunkt bleibt in der Luft, im Äther, im leeren Raum und zwar genau dort, wo er läge, wenn unsichtbare, schwerelose, aber feste Stäbe zwischen den Splittern trotz aller Entfernung ihre Einheit aufrechterhielten.

Vergegenwärtigen wir uns den Vorgang an dem schematischen Beispiel einer fliegenden Bombe. Ihre Bahn ist – bei vernachlässigtem Luftwiderstand – eine Parabel, die je nach der Stellung des Geschützes steiler oder flacher ausfällt. Für eine kurze Strecke können wir die Krümmung der Bahn außer acht lassen, sie also als eine gerade Linie auffassen, in deren einem Punkt B sich die Bombe befindet:

Jetzt erfolgt die Explosion; die Bombe ist zerstört, und die Splitter zerstieben nach verschiedenen Richtungen. Als solche denken wir uns, um einen Elementarfall aufzustellen, zwei größere Massen N und eine winzige m in folgender Anordnung:

Und wir fragen: kann die Bombe so platzen? Ein ersichtlicher Gegengrund scheint zunächst nicht vorzuliegen. Die Besonderheit des Geschosses, seines Metallgefüges und seiner Sprengladung müssen unter unendlich vielen Formen der Zersplitterung doch auch diese ermöglichen.

Aber hier meldet sich das vorgenannte, von Newton zuerst aufgestellte Gesetz: die Bombe darf das nicht! Und weil dies Gesetz ihren Eigentrieben und jedem Zufall überlegen ist, so bleibt der Bombe nichts übrig, als nach einer anderen, mit dem Gesetz verträglichen Methode zu zerspringen.

Denn im bezeichneten Fall würde der gemeinsame Schwerpunkt infolge des Übergewichts der beiden größeren Sprengteile unter die Schußlinie gedrängt werden, und das verstößt gegen sein Programm. Er selbst besteht zwar nur in 239 der Idee, als ein wesenloser Punkt im Raum, aber als unverschiebbares Leitmotiv beherrscht er das ganze System mit der Forderung: die ursprüngliche Parabel wird fortgesetzt! Und sein Wille bleibt solange souverän, bis ein Sprengstück an der Erde, an einer Mauer oder sonstwo auf ein äußeres Hindernis stößt.

Und so gelangen wir von der zerschmetternden Wirkung eines Sprengkörpers wenigstens insofern zu einem guten Ergebnis, als wir in dem Maximum der Unordnung, die eine Explosion anrichtet, doch noch eine Ordnungsregel entdecken. Grund genug, um sich des Worts von Leonardo da Vinci zu erinnern: die Mechanik ist das Paradies der mathematischen Wissenschaften, denn durch sie kommt man zur mathematischen Frucht.”


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