Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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203. Die Erde im Dienst eines Regenschirms

Quelle: Professor Dr. Ing. h. c. Launhardt: »Am sausenden Webstuhl der Zeit«, 23. Bändchen der Sammlung »Aus Natur und Geisteswelt«. Verlag von B. G. Teubner, Leipzig, 1910. Z.

Die Eisenbahn hat, wie keine andere technische Schöpfung, fördernd und umgestaltend auf die Kultur der Menschheit eingewirkt. Sie hat ein ganz neues Zeitalter heraufgeführt. Im Widerspruch mit der üblichen historischen Einteilung kann man alles, was vor Einführung der Eisenbahn als öffentliche Verkehrseinrichtung liegt, als Altertum bezeichnen, den Rest als Neuzeit. Was wir Verkehr nennen, ist ja erst zusammen mit der Eisenbahn entstanden. Die Schienenwege bewirken, daß es praktisch eigentlich gar keine Entfernungen auf der Erde mehr gibt.

Insbesondere zeigt sich das auf dem Gebiet der Volkswirtschaft. Die Gütererzeugung ist unabhängig geworden von dem Ort, an dem die Rohstoffe gewonnen werden. In großartigster Weise ziehen fortwährend die Güter über die ganze Erde, bei welchem Vorgang natürlich auch die Schiffahrt wichtigste Mitarbeit leistet. Wir empfinden es heute nicht mehr, daß wir bei den zahllosen Gegenständen des täglichen Gebrauchs eigentlich fortwährend die ganze Erde uns dienstbar machen. Aus allen Himmelsgegenden mußten die Stoffe teils roh, teils schon geformt, zusammenströmen, damit irgend eines selbst der geringen Werkzeuge unserer Bequemlichkeit entstehen konnte. Professor Launhardt hat diese Zusammensetzung eines bescheidenen Industrieerzeugnisses aus den verschiedensten Produkten sehr eindrucksvoll in einem Beispiel dargestellt. Er wählte als Gegenstand einen Regenschirm:

„Der Stock des Schirms ist in der bekannten Stockfabrik von Meyer in Harburg aus einem Holz angefertigt worden, das in Venezuela gewachsen war, und mit einem aus Japan bezogenen Lack lackiert. Der Elfenbeingriff wurde aus dem Zahn eines Elefanten hergestellt, der im Eis Sibiriens eingebettet gefunden wurde. Der silberne Ring, der den Griff an seiner Wurzel umschließt, wurde von einer Metallwarenfabrik in Pforzheim geliefert, die das Silber von einer Silberhütte am Harz bezog, in der es unter Zuschlag brasilianischer Silbererze gewonnen wurde. Das dem Silber zugesetzte Kupfer wurde von Mexiko oder den Otaviminen in Südwest-Afrika eingeführt.

285 Die Messingzwinge am unteren Ende des Stocks wurde aus einem Blech gebogen, das aus einem Messingwalzwerk der Rheinprovinz stammt. Das Kupfer des Messings kam von Peru, das Zink aus Belgien. Das Blei, mit welchem die Zwinge ausgefüllt ist, wurde aus Colorado bezogen und das diesem Blei zur Erreichung größerer Härte zugesetzte Antimon vom Ural. Die kleinen eisernen Stiftchen, durch welche die Zwinge am Stock befestigt ist, wurden in einer Stiftfabrik in Schweden angefertigt.

Das bewegliche Gestell des Schirms wurde in Berlin aus Eisenteilen zusammengesetzt, die in einem Walz- und Hüttenwerk im Saargebiet gewalzt waren. Die Fischbeinspitzen der Bügel des Gestells stammen von einem Walfisch, der bei Grönland von einem schottischen Walfischfänger gefangen und in London an den Markt gebracht war. Der Seidenstoff, mit dem das Gestell überspannt ist, wurde in Chemnitz gewebt. Die Seide stammt aus China und wurde von einer Rohseidenhandlung in Krefeld gekauft. Die Baumwolle, die dem Seidenstoff beigewebt war, wuchs in Virginia in Nordamerika, wurde in der englischen Fabrikstadt Bradford gesponnen und durch Vermittlung eines Hamburger Hauses bezogen.

Die Anilinfarbe, mit welcher der Stoff gefärbt ist, wurde in der großen chemischen Fabrik zu Höchst am Main hergestellt aus einem Steinkohlenteer, der rheinaufwärts von der Gasanstalt zu Köln gekommen war, in dem man Gas aus Kohlen des Ruhrgebiets gewinnt. Das Gummibändchen, das den Überzug des geschlossenen Schirms zusammenhält, wurde in Hannover aus einem Gummi angefertigt, der aus dem Innern Afrikas über Kamerun bezogen wurde, und der dem Bändchen eingewebte Hanf kam von Manilla. Der aus einem Eisenröhrchen zusammengebogene Ring, durch welchen das Gummiband über einen Knopf gespannt wird, wurde in einem Kleineisenwerk Schlesiens hergestellt. Der Knopf für diesen Ring wurde in Thüringen aus dem Horn eines Büffels gedreht, der in den Prärien Argentiniens erlegt wurde. Die aus Aluminiumbronze bestehende kleine Glocke, die über die Bügelspitzen des geschlossenen Schirms geschoben wird, wurde in Wien gearbeitet.

Die Seidenschnur mit Quaste, welche um den Griff geschlungen ist, hat man von Paris bezogen. Es war dazu Seide verwendet, die in Lyon gesponnen und gefärbt war aus einer Rohseide, die in einer Seidenwurmzüchterei bei Mailand gewonnen war. Die Papphülsen, über welche die Köpfe der Seidenquaste gesponnen sind, waren aus einem Holzfaserstoff hergestellt, der von Hölzern aus den Waldungen der Pyrenäen gewonnen wurde.

Man erwäge nun, welche außerordentliche Fülle von Mitteln anzuwenden und welch mannigfaltige Arbeiten erforderlich waren, um die zur Verwendung 286 gekommenen Rohstoffe zu gewinnen, diese zu den erforderlichen mannigfachen Erzeugnissen zu verarbeiten, heranzuschaffen und zur Fertigstellung des Schirms zusammenzufügen. Es mußten Bergwerke und Hüttenwerke angelegt und betrieben, Bodenerzeugnisse angebaut und geerntet werden, Gebäude der verschiedensten Art errichtet, Kraft- und Arbeitsmaschinen verschiedenartiger Anordnung gebaut und in Betrieb gesetzt werden. Zur Heranschaffung der Stoffe waren Lastträger und Packtiere auf den schmalen Pfaden unkultivierter Länder in mühseliger Arbeit tätig, die Stoffe wurden auf Schlitten in eisigen Gefilden, durch Lastwagen auf rohen Wegen und Landstraßen, auf Eisenbahnen, in Flußschiffen und Seeschiffen, in Segelschiffen und stolzen Dampfern herbeigeschafft.

Welche Anstrengungen mußten dabei aufgewendet, welche Gefahren überwunden werden! Welche Handelsgeschäfte waren durch Geschäftsreisen, Briefwechsel, Buchführung und Geldverkehr durchzuführen, wieviel geistige Arbeit war unablässig auf die Ausbildung und Vervollkommnung der chemischen und mechanischen Arbeitsvorgänge gerichtet, wie viele Millionen Menschen waren mit irgend einem Handgriff, mit irgendwelcher Tätigkeit an der Vollendung dieses einen Regenschirms beteiligt!”


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