Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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77. Der Freßton

Quellen: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1907. – Archiv für Anatomie und Physiologie, 1909.

Über die musikalische Veranlagung verschiedener Tiere, besonders der Hunde, hat Professor Dr. Otto Kalischer in Berlin auf Veranlassung der Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften eine Reihe von Untersuchungen angestellt, die zu höchst merkwürdigen Ergebnissen führten.

Er begann damit, Hunde in der Weise abzurichten, daß sie nur bei einem ganz bestimmten musikalischen Ton nach hingelegten Fleischstücken schnappen durften, bei anderen Tönen hingegen die Fleischstücke liegen lassen mußten.

Als Versuchsinstrumente bewährten sich Orgel und Harmonium infolge ihrer langen Tondauer, während die Dressur am Klavier auf Schwierigkeiten stieß.

Kalischer ersann nun eine Methode, die dem Hund gestattete, bei einem gewissen Ton oder Tonkomplex die Bissen zu erreichen, während bei anderen Tönen (»Gegentönen«) das Fleisch nicht erfaßt werden konnte. Manche Tiere begannen schon beim fünften oder sechsten Versuch, auf die Methode zweckmäßig, also vom musikalischen Instinkt geleitet, zu reagieren. Sogar die benachbarten halben Töne wurden mit Sicherheit unterschieden, und die begabtesten Hunde sprangen nach richtiger Reaktion auf den Freßton sofort weg, sobald ein anderer Ton, mochte er selbst der unmittelbar benachbarte sein, angeschlagen wurde.

Es stellte sich heraus, daß die Güte und Feinheit des Tongehörs in gewisser Weise mit dem Charakter des Hunds zusammenhängt. Jagdhunde, Terriers und Pudel eigneten sich am besten zur Dressur, und unter ihnen zeigten wiederum die temperamentvollsten das stärkste Talent, während die zaghafteren nicht auf der Höhe der musikalischen Anforderung standen.

Um ganz sicher zu gehen und jeden Zweifel an der rein akustischen Wahrnehmung auszuschalten, machte Professor Kalischer mehrere Tiere zeitweilig blind, so daß eine etwaige Mitwirkung von Hilfen durch den Gesichtssinn fortfiel. Es zeigte sich, daß die vorübergehend erblindeten Tiere sich bei Freßton und Nichtfreßton genau so verhielten wie die sehenden.

Als Gesamtergebnis stellte sich heraus, daß die Hunde im allgemeinen ein überaus feines Tonunterscheidungsvermögen besitzen; ferner daß ihnen ein »absolutes Tongehör« zugesprochen werden muß, da auch bei längeren Unterbrechungen der Versuche die Tonerinnerung sich sofort wieder einstellte.

Nicht ganz so trefflich, aber immerhin noch ausreichend bestand ein Esel die 103 Konservatoriumsprüfung. Im Versuchsfall dauerte es etwa zehn Tage bis der Esel das eingestrichene A als Freßton begriffen hatte. Hafer mit Zutat von Streuzucker erwiesen sich als geeignete Lehrmittel, und bei deren Anwendung zeigte sich schließlich ein »absolutes Tongehör« in musikalischem Sinn auch beim Esel als sicher vorhanden.

Die Zusammenhänge dieser Erscheinungen mit den Funktionen des Großhirns sind von Kalischer in den Sitzungsberichten der Akademie und im Archiv für Anatomie und Physiologie (1907 und 1909) beschrieben worden. Weitere Untersuchungen, in jenen Schriften dargestellt, führten vom »Freßton« zum »Freßgeruch« und zu »Freßfarbe«; es ergab sich, daß auch auf diesen Gebieten die Tiere mit ganz bestimmten Unterscheidungsfähigkeiten zu urteilen wissen.


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