Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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61. Der Roman des Bandwurms

Quelle: Wilhelm Bölsche: »Das Liebesleben in der Natur«, erste Folge. Verlegt bei Eugen Diederichs, Leipzig, 1901.

Vom Standpunkt des Menschen aus gesehen, gehört der Bandwurm gewiß nicht zu den Segnungen der Natur. Ein Schmarotzertier an eklem Ort, ist es ein Geschöpf, an das man sich nicht gern erinnern läßt. Aber die 88 Gnadensonne, die das ewige Werden im Weltganzen bescheint und weckt, strahlt auch über ihm; sie leuchtet dem Bandwurm in den Tiefen der menschlichen Darmschlingen ebenso wie dem stolzen Reiter auf lachenden Gefilden.

Auch der Bandwurm soll leben und seine Art fortpflanzen können, und da zwischen den verschiedenen Siedlungsstätten dieser Tiergattung, die immer wieder die Eingeweide menschlicher Individuen sind, keine direkte Verbindung besteht, so wird ein höchst umfangreicher Apparat in Bewegung gesetzt, um diesen Übergang doch zu ermöglichen. Die Übertragung des Bandwurms von Mensch zu Mensch ist ein wahrer Roman, so toll und so unwahrscheinlich wie möglich und begreiflich eben nur, weil er wahr ist.

Der Bandwurm ist ein vollkommener Schmarotzer. Er besitzt zwar einen Kopf mit Saugnäpfen zum Festhalten an den Darmwänden, aber weder Mund, noch Magen, noch Darm. Und diese Organe hat er auch nicht nötig, da ihm ja von allen Seiten fertig verdaute Nahrung zugeführt wird, die er mit seiner ganzen Körperoberfläche aufnimmt. So wohl genährt, hat er auch den Wunsch sich fortzupflanzen. Nach der uns normal erscheinenden Methode geht das nun nicht, denn er ist ja allein. Darum schlägt er einen anderen Weg ein, der an sich im niederen Tierreich nicht selten ist. Er läßt an seinem Körperende ein Junges hervorsprießen. Und bald auch ein zweites, ein drittes, bis eine Kette von mehreren Hundert solcher Jungen an ihm hängt.

Diese Bandwurmjungen aber besitzen Geschlechtsorgane. Sie sind sogar Zwitter, d. h. Männchen und Weibchen zugleich. Und wie sie so dicht aneinander gedrängt sitzen, ist es ein leichtes, daß sie sich gegenseitig befruchten. Im Körper jedes einzelnen der Jungen umziehen sich dann die befruchteten Eier mit einer festen Schale und lassen in ihrem Innern langsam Embryos entstehen. Diese sind also schon Enkel des ursprünglichen Bandwurms.

Die Zahl der Eier ist ganz erstaunlich groß. Bringt es doch manch ein Bandwurm auf tausend Junge, und jedes von diesen birgt an 50 000 Eier. Dieser Überfluß ist aber notwendig, denn nur wenige Embryos gelangen bei der nun folgenden Reise an einen für ihre Weiterentwicklung günstigen Ort.

Denn bald reißen Stücke des Bandwurms ab, und die ursprünglichen Jungen gelangen dann mitsamt den entwickelten Eiern in die Kloake oder in die Kanalisationen. Hier sterben die Eltern rasch ab, aber die Eier können sich infolge ihrer Verschalung erhalten. Mit dem Wasser gelangen sie nun in Seen oder Flüsse, mit dem Dünger aufs Feld. Dort werden sie von Fischen, hier von Rindern oder Schweinen verschlungen.

Kaum ist ein Embryo so in einen Tiermagen geraten, so löst sich die Eischale und das Tierchen kriecht aus. Es setzt sich an der Magenwand des 89 Gasttiers fest, durchbohrt sie und treibt im Muskelfleisch zu einer dicken Blase aus, die wir Finne nennen. Innerhalb dieser Finne aber bildet sich als zapfenartige Anlage nunmehr ein neuer richtiger Menschenbandwurm heraus.

Ißt ein Mensch finniges Fleisch, so gelangt dieser Kopf in seinen Darm, er kann sich dort wieder festsaugen – und die Reise ist beendet. Wieder hat ein Mensch einen Bandwurm. Der Wille der Natur ist damit vom Standpunkt des Bandwurms in herrlicher Weise erfüllt. Neue Scharen von Kindern und Enkeln können heranwachsen.


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