Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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124. Die durchbrochene Wahrscheinlichkeit

Quelle: Daniel Bernoulli: »Versuch einer neuen Theorie der Wertbestimmung von Glücksfällen«, herausgegeben von Professor Dr. Alfred Pringsheim. Verlag von Duncker & Humblot, Leipzig, 1896.

Alles Hasardspiel gründet sich auf die Erwartung, daß die Regeln der Wahrscheinlichkeit eine Art naturgesetzlicher Geltung besitzen und sich letzten Endes unbedingt durchsetzen müssen. Aber die Erfahrung zeigt, daß diese Regeln nicht durchweg ganz dicht halten, ja sogar bisweilen klaffende Löcher aufweisen. Die Gewinnaussicht einer Spielbank – Monte Carlo, ehedem Baden-Baden, Homburg – übertrifft die des Einsetzers durchschnittlich im Verhältnis von 37 zu 36. Dieses Übergewicht müßte hinreichen, um jeden wagemutigen und ausdauernden Spieler in verhältnismäßig kurzer Zeit niederzuwerfen. Aber zu Dutzenden erschienen große Spieler, die der Regel trotzten und die Wahrscheinlichkeit besiegten. So der Spanier Garcia, der sich in jahrelangem Kampf gegen die Hasardbanken vier Millionen Franken erspielte.

Das Auftauchen einer Serie (z. B. von 10 »Rouge« nach einander ohne Dazwischenkommen eines einzigen »Noir«) ist eine Unwahrscheinlichkeit, die bei gesteigerten Zahlen an die Unmöglichkeit grenzt. Nach der Wahrscheinlichkeit gemessen müßte in Monte Carlo an sämtlichen grünen Tischen ungefähr 2000 Jahre gespielt werden, ehe eine Farbe in lückenloser Folge 30 Mal herauskäme. Aber die Wirklichkeit widersprach dem angeblichen Naturgesetz: schon kurze Zeit nach Gründung der Hasardbank erschien eine Serie von 32 »Rouge«, und dieses Ereignis hat sich seitdem mehrfach wiederholt. Die Wahrscheinlichkeit für 32 Rouges beträgt an sich etwa 1 zu 4 Milliarden. Nach einer Mitteilung von Silberer in dessen Buch »Vom grünen Tisch in Monte Carlo« kam im Jahre 1898 die Nummer 33 an einem Tisch siebenmal hintereinander. Hierfür beträgt die absolute Wahrscheinlichkeit rund 1 zu 100 Milliarden.

Auf noch weit merkwürdigere Ergebnisse stößt man, wenn man die Wahrscheinlichkeit im Glücksspiel nach der Vorschrift des großen Mathematikers Daniel Bernoulli berechnet. Er befreite die landläufige Wahrscheinlichkeitbetrachtung von einem alten Denkfehler, indem er einen persönlichen Glückswert einführte, nämlich das Verhältnis von Gewinn und Verlust zum 184 Stammvermögen, und diese von ihm so genannte »moralische Hoffnung« mit der »mathematischen Hoffnung« rechnerisch verschmolz. Aus Bernoullis genial durchgeführter Lehre ergeben sich folgende unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeiten:

Das Publikum steht bei einer öffentlichen Spielbank immer im Nachteil und würde selbst dann mit Verlust spielen, wenn die Möglichkeiten zwischen ihm und der Bank ganz genau die gleichen wären!

Ferner: wenn zwei Spieler unter ganz gleichen Aussichten in einem Glücksspiel gegeneinander operieren, und wenn beide denselben Prozentsatz ihres Vermögens wagen, so sind – – beide im Nachteil. Bei einem Grundvermögen von 100 und einem Einsatz von 50 Dukaten unterliegen beide einer ungünstigen Wahrscheinlichkeit, die sich auf 13 Dukaten Verlust für jeden berechnet.

Wird als Operationsmittel ein Würfelspiel gewählt, so tritt obendrein die Mechanik auf, um der üblichen Wahrscheinlichkeit einen Stoß zu versetzen. Die sechs Seiten des Würfels sind nämlich nicht gleichwertig, und bei tausenden von Würfen würde die 6 öfter oben erscheinen als die 1. Denn die mit ::: bezeichnete Fläche enthält infolge der stärkeren Aushöhlung weniger Substanz als die entgegengesetzte, und bewirkt dadurch, daß in einem ganz exakt gearbeiteten Spielwürfel der materielle Schwerpunkt mit dem geometrischen nicht zusammentrifft. Dadurch gewinnt der Würfel eine zwar schwache, aber auf die Dauer doch merkbare Neigung, die 6 zu bevorzugen und nach oben zu bringen.

Zur Erörterung eines ferneren Durchbruchs durch die Wahrscheinlichkeit nehmen wir an, daß sich in einem Beobachtungsgebiet Männer und Frauen in gleicher Anzahl befinden, was sich ja im Großen und Ganzen der wirklichen Verteilung der Geschlechter ohne nennenswerten Fehler anschließt.

Die beobachtende Person nennen wir A. Wenn A sein Haus verläßt, so spricht die Wahrscheinlichkeit ½ dafür, daß der erste Mensch, der ihm auf der Straße begegnet, männlich sein wird. Für den zweiten, dritten, vierten, fünften Menschen verringert sich diese Wahrscheinlichkeit auf 1/4, 1/8, 1/16, 1/32. Anders ausgedrückt: unter 32 Ausgängen des A wird es durchschnittlich nur einmal vorkommen, daß die ersten ihm begegnenden 5 Menschen männlich sein werden.

Für die Proben auf das Exempel verfährt man am besten, wenn man die Bedingungen nach verschiedenen Tageszeiten verändert; um so genauer wird dann das Ergebnis stimmen.

Nun nimmt sich A vor, so oft auszugehen, bis er einmal in lückenloser Folge 200 männliche Personen als die ersten ihm begegnenden auf der Straße antrifft. Die Rechnung belehrt ihn, daß er das niemals erleben kann, denn die Wahrscheinlichkeit ergibt hier im Bruchnenner eine ganz 185 unaussprechliche Zahl. Setzt man einen markierten Fisch in den Atlantischen Ozean, mit dem Vorsatz, ihn nach Wochen vom Boot aus mit freier Hand wieder zu ergreifen, so wäre das Gelingen immer noch viel wahrscheinlicher, als das Eintreten des Ereignisses, das dem A vorschwebt.

Auch die bekannte Aussage der Logik, daß Cajus sterben muß, weil alle Menschen sterblich sind, reicht da nicht heran. Denn für die Möglichkeit, daß Cajus als einzige Ausnahme ewig leben bleiben wird, ergibt sich immer noch die Wahrscheinlichkeit von 1 dividiert nur durch die Milliarden von Menschen, die bis jetzt starben.

Erachten wir es aber als unmöglich, daß Cajus ewig lebt, so müssen wir es für noch viel unmöglicher erklären, daß A sein Vorhaben jemals verwirklichen könnte, sollte er auch Quadrillionen von Jahren alt werden.

Aber eines Tags verläßt A sein Haus und erblickt beim ersten Schritt auf die Straße etwas ganz Alltägliches: einen Trupp Soldaten von 200 oder mehr Köpfen, der ihm entgegenkommt. Und in diesem Moment ist jene ganze Berechnung rettungslos durchbrochen. Das Unmögliche wird Wirklichkeit und nicht einmal besonders auffällige.

Ist nun die Wahrscheinlichkeitsansage dadurch hinfällig geworden? Keineswegs. Sie bleibt, allgemein betrachtet, in Gültigkeit, nur praktisch brauchbar ist sie nicht. Das wäre sie erst dann, wenn es gelänge, die Verkehrsgruppierungen einer Stadt in die Berechnung einzubeziehen, was dann selbstverständlich zu vollkommen anderen Zahlen führen würde.


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