Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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90. Justiz gegen Tiere

In der Zeit des Hexenwahns konnte die Tollheit üblich sein, daß die Gerichte, die weltlichen wie die geistlichen, auch Tiere jeglicher Art, wenn sie sich gegen das Gesetz vergangen hatten, vor die Schranken forderten, in aller Form Rechtens aburteilten, in Kerkerhaft warfen oder gar zum Tod durch Henkershand verdammten.

In seinem Werk »Indiscrétions de l'Histoire« widmet Dr. Cabanès einen Abschnitt der Untersuchung und Feststellung der Tierprozesse, deren Schauplatz insbesondere Frankreich gewesen ist, und die dort manchmal auf eine geradezu groteske Weise in Szene gesetzt wurden.

Im Jahre 1386 zum Beispiel hatte eine Sau einem kleinen Kind das Gesicht zerfleischt. Sie wurde zum Tode verurteilt und vor allem Volk hingerichtet. Man hängte sie an den Hinterbeinen auf, nachdem man ihr den Rüssel zerstört und ihr an dessen Stelle eine menschliche Maske vorgebunden hatte. Dazu hatte 119 man ihr das Gewand eines Manns angezogen: einen Rock, Hosen an den Hinterfüßen, weiße Handschuhe an den Vorderfüßen.

Das denkwürdige Ereignis ist in einem Freskogemälde der Dreifaltigkeitskirche von Falaise für die Nachwelt festgehalten. Da sieht man wie der Henker auf erhöhtem Brettergerüst, unter der Aufsicht des würdevoll dastehenden Richters, der Sau die Schlinge um den Hals legt. Neben dem Gerüst hält gebietend zu Pferd der Gerichtsherr, und davor drängt sich die Menge, Jung und Alt, das interessante Schauspiel zu genießen.

Angriffe von Schweinen auf Kinder in der Wiege ereigneten sich häufig und führten bis an die Schwelle des achtzehnten Jahrhunderts, wenn Klage erhoben war, zu hochnotpeinlichen Verfahren gegen den Attentäter. Oft hatte außer diesem die ganze Herde, zu der er gehörte, die Todesstrafe zu erleiden.

Hätte man eine genaue Statistik dieser gesamten Tierjustiz, so würden wohl an zweiter Stelle, hinter den Schweinen, die Stiere marschieren, die ein Menschenleben vernichtet hatten und dafür am Ort ihres Verbrechens aufgehängt wurden.

Im Jahre 1389 wurde ein Pferd wegen Mords zum Tode verurteilt, und 1467 trifft das gleiche Schicksal eine Katze, die ein vierzehn Monate altes Kind erwürgte. Auch wegen Hexerei hatten die Tiere sich vor Gericht zu verantworten. In Basel wurde 1474 ein Hahn beschuldigt, ein Ei gelegt und dies im Bunde mit dem Bösen vollbracht zu haben; man verbrannte ihn samt dem Ei auf offenem Markt.

Das Fleisch des durch den Strang vom Leben zum Tod beförderten Tiers galt als unrein; es durfte daher – und das war eine harte Strafe für den Eigentümer, namentlich wenn eine ganze Herde gehängt wurde – nicht als Nahrungsmittel verkauft werden, sondern wurde sofort nach der Vollziehung des Richterspruchs verbrannt oder vergraben. Gewöhnlich hatte der Eigentümer die Pflicht, dieser Vollziehung beizuwohnen, und ebenso der Vater eines von dem Tier getöteten Kinds.

Und hier ist der teils symbolische, teils praktische Sinn der Tierjustiz zu erkennen. Die Tötung des Tiers sollte den Eigentümer als Strafe treffen und ihn veranlassen, künftighin sein Vieh sorgsamer zu behüten; für den Vater aber lag in dem Zwang, sich auf dem Blutgerüst an der Seite des Henkers den Blicken und dem Spott der Volksmenge auszusetzen, die ernstliche Weisung, fortab seine Kinder nicht achtlos der Gefahr auszusetzen. 120


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