Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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6. Die chinesische Mauer

Quelle: Ernst von Hesse-Wartegg: »Die Wunder der Welt«. Union, Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig. — Wo sich innerhalb des Texts wörtliche Zitate befinden, sind diese durch besondere Zeichen („. . . .”) hervorgehoben.

Das riesenhafteste Verteidigungswerk, das es auf der Erde gibt, zugleich der räumlich gewaltigste Bau, den je Menschenhände geschaffen haben, ist von den Chinesen an der Nordgrenze ihres Reichs aufgerichtet worden. 200 Jahre vor Christi Geburt, also vor mehr als zwei Jahrtausenden bereits, ist der Bau zur Regierungszeit des Kaisers Schihoangti begonnen worden, und noch heute steht er gewaltig trotzend da und scheint fähig, weitere Jahrtausende zu überdauern. Die Mauer wurde einst errichtet, um die Einfälle der wilden, äußerst kriegslustigen Mongolen in das chinesische Gebiet abzuhalten.

Der bekannte Weltreisende Ernst von Hesse-Wartegg schreibt über das Riesenwerk: „Elf bis zwölf Meter hoch, am Fuß zehn, oben über sieben Meter breit, aus mächtigen Granitquadern ausgeführt, zieht sich die Mauer auf dem Gebirgskamm dahin nach Ost und West, in unabsehbare Fernen, die steilsten Höhen empor, in tiefe Täler hinab, manchmal in den die Bergspitzen verhüllenden Wolken verschwindend, streckenweise durch andere vorliegende Höhen dem Blick entzogen, um dann wieder in ihrer Mächtigkeit für meilenlange Strecken hervorzutreten. Kein Hindernis war groß genug, daß es nicht überwunden wurde. Welche Riesenarbeit, um dieses Bollwerk zu errichten, das sich von den 9 Küsten des Gelben Meers bis weit in das Innere der Wüste Gobi hinzieht und mit seinen Abzweigungen eine Gesamtlänge von über dreitausend Kilometern erreicht.

Eine Mauer von dreitausend Kilometern Länge! In Europa errichtet, würde sie von Schottland bis an die Dardanellen oder von der Krim bis in das nördliche Eismeer reichen. Staunend habe ich wiederholt vor einem anderen Riesenwerk, der großen Cheopspyramide, gestanden, zu deren Erbauung nach Herodot hunderttausend Menschen und dreißig Jahre Zeit erforderlich waren, und die zweieinhalb Millionen Kubikmeter Steine umfaßt. Aber dieses Werk verschwindet geradezu im Vergleich zu der chinesischen Mauer, die nicht zweieinhalb, sondern dreihundert Millionen Kubikmeter umfaßt, also so viel Material enthält wie hundertzwanzig Cheopspyramiden.

Wer sich das vor Augen hält, kann sich einen Begriff von der Riesenhaftigkeit der chinesischen Mauer machen. Wie lange daran gebaut wurde? Wie viele Millionen Menschen dabei beschäftigt waren? Wer könnte das heute sagen. Und wie beschwerlich muß dieser Bau gewesen sein. Die Mauer liegt ja nicht in einer fruchtbaren Ebene wie die Cheopspyramide, und es gab dort keinen Wasserweg wie den Nil zur Herbeischaffung des Materials. Auf dem größten Teil ihrer Ausdehnung führt sie über unwirtliche, kahle Gebirge, durch unbewohntes Land, und jeder der Millionen von Quadersteinen mußte erst mühselig herbeigeschafft werden, auf fast unzugängliche Höhen hinauf bis zu zweitausend Meter über dem Meeresspiegel, in steile Schluchten hinab, über Wasserläufe hinweg.”

Schon seit der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, als die Mandschu-Dynastie die alten Ming-Kaiser verdrängte, ist die Mauer bedeutungslos geworden, und da, wo früher hunderttausende von Soldaten auf der Wacht standen, herrscht jetzt Einsamkeit und nur von wandernden Karawanen unterbrochene Stille.


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