Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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165. Prophezeiung der Elemente

Quelle: A. von Autropoff, Abhandlungen in den Vorträgen der Baltischen Literarischen Gesellschaft. Verlag W. Mellin & Comp., Riga, 1913.

Einige Fachausdrücke sind zuvor kurz zu erläutern. Unter Atomgewicht versteht der Chemiker gewisse Verhältniszahlen, bezogen auf das leichteste Element, den Wasserstoff. Aus der Natur der chemischen Verbindungen findet er z. B., daß das Atom des Kohlenstoffs 12mal, des Stickstoffs 14mal, des Sauerstoffs 16mal usw. schwerer ist als das als Einheit gewählte Atom des Wasserstoffs. Die Zahlen 1, 12, 14, 16 usw. nennt man daher die Atomgewichte dieser Elemente. Mit Hilfe dieser für die bekannten Grundstoffe ermittelten Zahlen lassen sich alle Gewichtsverhältnisse voraussagen, in denen beliebige Elemente zu neuen Stoffen sich verbinden können.

Aber diese Aussagen verblassen in ihrem prophetischen Reiz vor einer anderen Prophezeiung, die sich weiterhin aus jenen Zahlen entwickelte. Hier ergab sich etwas ungeheuer Überraschendes in der Entdeckung des Periodischen Systems durch Mendjelejew und Lothar Meyer. Aus ihm stieg im eigentlichen Sinn des Worts ein Zauber hervor, der die Orakel der delphischen Pythia weitaus verdunkelte.

Es handelt sich in diesem Periodischen System um eine Tabelle, in der sich neben vielen ausgefüllten Stellen manche unausgefüllte, vorläufig noch nicht besetzbare Stellen befinden. Und gerade diese weißen Flecke, die unausgefüllten Stellen, sollten epochal werden. Sie wurden die Träger der großartigsten Prophezeiungen.

Die genannte Tabelle besitzt Vertikalreihen und Horizontalreihen und ergibt dadurch Schachteln, in welche die Elemente nach gewissen, ihren Atomgewichten entsprechenden Regeln in stetiger Folge eingetragen werden. Ein Teil dieser Tabelle sieht etwa so aus:

227 Die Buchstaben sind abkürzende Zeichen für die Stoffe selbst; so bedeutet Ag (Argentum): Silber; Cd: Cadmium; In: Indium; Sb (Stibium): Antimon und so fort. Die Zahlen entsprechen den Atomgewichten der Körper.

Die so angeordnete Tabelle birgt aber in ihren trockenen Zeichen einen tief geheimnisvollen Sinn. Von ihr strahlt ein Licht aus über die Familienzugehörigkeit der Urstoffe. Die physikalischen und chemischen Eigenschaften, also diejenigen Eigenschaften, die das Element als Individuum kennzeichnen, sind nämlich genau das arithmetische Mittel zwischen den Eigenschaften seiner horizontalen und vertikalen Nachbarn. Das ergibt zunächst die Möglichkeit, die Eigenschaften eines noch unbekannten Elements im Voraus anzusagen, wenn uns nur sein Atomgewicht genannt wird. Das Periodische System eröffnet aber die noch weit erstaunlichere Möglichkeit, vorauszusagen, was für unbekannte Elemente noch existieren können, und welche Eigenschaften diese haben müssen!

Die unbesetzten Stellen in der Tabelle beginnen zu reden und mit welcher Beredsamkeit! Die weißen Flecke melden sich als Propheten und sagen uns: was hier fehlt, ist durch die Nachbarn erratbar, die leere Stelle selbst weist den Weg zum Fund.

Den Beweis für diese Prophetenstärke des Periodischen Systems erbrachte Mendjelejew selbst mit voller Treffsicherheit. Die Grundstoffe mit den Atomgewichten 44, 70 und 72 waren damals, als die Tafel zuerst angeordnet wurde, noch unbekannt. Mendjelejew wies auf die Notwendigkeit ihrer Existenz hin und sagte nicht nur alle ihre Eigenschaften voraus, sondern auch diejenigen ihrer chemischen Verbindungen mit anderen Grundstoffen. Im Verlauf einiger Jahre wurden tatsächlich die vorausgesagten Elemente mit allen prophezeiten Eigenschaften gefunden. Wir kennen sie heute als Scandium, Gallium und Germanium.

Und gleichzeitig bietet diese Wundertafel die schärfste Kontrolle für sich selbst und für den Entdecker. Ist das Neuentdeckte wirklich elementar, nicht zusammengesetzt, so muß der neue Stoff ein Atomgewicht ergeben, das einem noch freien Platz auf der Tafel entspricht. Diese Probe hat auch das Radium vollkommen bestanden; es paßte mit seinem Atomgewicht von 226 genau an die Stelle, die ihm die Zahl in der Tabelle anwies.

Diese Tafel deckt sich von selbst wie das märchenhafte «Tischlein deck' dich«. Nur daß seine Zauberformel anders lautet: »Substanz – entdeck' dich!« 228


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