Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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85. Das vielfach zerteilte Individuum

Quelle: Wilhelm Fließ: »Der Ablauf des Lebens«. Verlag Franz Deutecke, Leipzig und Wien, 1906. Z.

Die letzte Schlußfolgerung aus dem im vorigen Abschnitt dargestellten Versuch Woodruffs mit dem Paramaecium wird, außer von Maupas, auch von Andern scharf bestritten. Insbesondere verwirft sie der Biologe Dr. Wilhelm Fließ, weil sie einem von ihm erkannten Grundgesetz des Lebens widerspricht. Nach Fließ ist in jedem Individuum männliche und weibliche Substanz enthalten, beim wahren Zeugungsakt handelt es sich stets um das Aufeinanderwirken von männlicher und weiblicher Substanz. Diese Mischung ist für die Fortpflanzung notwendig. Sie kann auf die Dauer nicht entbehrt werden.

Das gilt für die Gesamtheit des Tier- und Pflanzenreichs ohne Ausnahme. Freilich können sich längere oder kürzere Perioden von ungeschlechtlicher Fortpflanzung zwischen die Zeugungsakte einschieben. Aber diese letzten sind immer notwendig, wenn wirklich neue Generationen entstehen sollen. Die ungeschlechtliche Fortpflanzung ist, nach Fließ, nichts anderes, als die Ausbreitung desselben Individiums, wie das Wachstum und auch das Regenerationsvermögen, das wir noch bei manchen höheren Tieren antreffen. Sie teilt mit der Parthenogenese, der einseitig weiblichen Zeugung, die Unfähigkeit, eine Art dauernd zu erhalten.

Für seine Meinung, daß wirklich alle Ableger einer Pflanze, also alle ungeschlechtlich hervorgebrachten Abkömmlinge, mit der aus einem befruchteten Keim erwachsenen Mutterpflanze ein Individuum bilden – im Widerspruch zu der eigentlichen Bedeutung des Worts Individuum – führt Fließ einige wunderbare Beweise an.

„Naturfreunde haben seit Jahren bemerkt und Ochsenius hat es im »Prometheus« beschrieben, daß unser Alleebaum, die aus dem Orient stammende Pyramidenpappel, kränkelt und von der Spitze her verdorrt. Und das tut sie gleichmäßig 112 in ganz Deutschland, unabhängig von dem sehr verschiedenen Boden, auf dem sie gepflanzt ist, und unabhängig von Insektenfraß u. dgl. Für diese Erscheinung des allgemeinen Niedergangs der Pappeln hat Ochsenius die Tatsache verantwortlich gemacht, daß alle unsere Pappeln nur männlichen Geschlechts aus Stecklingen gezogen sind und sämtlich direkt oder indirekt von einem Mutterbaum abstammen, der vor etwa hundert Jahren aus dem Orient importiert und in den Park von Wörlitz verpflanzt wurde.

Da die Pappel im Verhältnis zu anderen Bäumen eine nur geringe Lebenszeit besitzt – Eichen werden über tausend, Mammutbäume über fünftausend Jahre alt – so führt Ochsenius diese Erscheinung auf das natürliche Altern und Absterben zurück. Die Stammpflanze ist greisenhaft geworden, und alle ihre Schößlinge werden es zu gleicher Zeit. Denn sie sind nicht ihre Kinder, sie verdanken nicht einem Befruchtungsakt das Leben, sondern sie sind ganz direkt Leib von ihrem Leib und nur gewachsen, nicht geboren.

Diesen Gedanken verfolgt Witt später in einem ausgezeichneten, mit fast seherischer Kraft geschriebenen Aufsatz, in dem er auf ein zweites Beispiel aufmerksam macht, das in demselben Sinn spricht.

Die vielbegehrte La France-Rose stirbt massenhaft ab, und überall gehen die Stöcke ein. Auch die sorgfältigste Pflege vermag sie nicht zu retten. Ihre Stunde ist gekommen und sie wird ausgestrichen aus der Liste des Lebendigen. Und warum? Weil sie nur einmal aus Samen gezogen wurde und seitdem nur durch Propfreiser auf Wildlingen veredelt ist. Alle La France-Rosen in der ganzen Welt bilden einen einzigen großen Rosenbusch. Und dieser ist in dem einen Sämling geboren worden, aus dessen Zweiglein alle übrigen erwachsen sind. Greist der Sämling, so greisen seine Zweige, und stirbt er, so sterben sie mit ihm.

Auch die Malvasierrebe, die dem zechfrohen Falstaff ihr edles Naß lieferte, ist längst nicht mehr. Sie ist mit vielen ihrer berühmten Schwestern heimgegangen wie alles, was vom Leben stammt.

Von einer anderen Kulturpflanze, der Kartoffel, mehren sich die Nachrichten über Lebensmüdigkeit. Die Kartoffel wird durch Knollen, also durch Ableger, ungeschlechtlich vermehrt. Aber dies Verfahren geht nicht ins Ungemessene. Die Ertragsfähigkeit sinkt ab, und die Kartoffel erliegt schließlich. Deshalb haben sich die Züchter veranlaßt gesehen, neue Sorten durch Samenkreuzung zu erzeugen. Es gibt zahlreiche, so gezeugte Kartoffelarten, und auf der internationalen Kartoffelausstellung zu Altenburg 1875 waren, wie Schiller-Tietz entnommen wird, 2644 gezüchtete Kartoffelsorten vertreten. Aber auch diese haben kein ewiges Leben und so erscheinen immer neue Sorten.”

113 Es ist schwer, sich vorzustellen, daß das Individuum so über einen weiten Raum ausgebreitet und zerteilt werden kann. Aber Fließ sieht seine Behauptung durch keinen Gegenbeweis entkräftet. Denn wenn Woodruffs Paramaecien sich auch 5½ Jahre hindurch rüstig ohne Konjugation weiter vermehrten, so ist dieser Zeitraum noch keine Ewigkeit. Es gibt ja wohl Bakterien, die so alt oder noch älter werden können, und so hatte Woodruff bei seinem Versuch das Höchstalter seines vielfach zerteilten Individuums noch nicht erreicht. Bei dessen Überschreitung wird es dann wohl richtige Leichen geben, zum Beweis dafür, daß alles dahingehen muß, was vom Leben stammt.


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