Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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166.

Leeds, den 16. Oktober 1881.

Alle Arbeit stockt. Leeds lag eine Woche lang im Fieber. Selbst mich, der ich das Treiben mit dem milden Interesse eines buddhistischen Einsiedlers betrachte, hat der allgemeine Wirbelwind in den Tanz hineingezogen. Schon vierzehn Tage zuvor hatte mir Greig unter dem Siegel unnötiger, aber tiefster Verschwiegenheit mitgeteilt, daß er seinen Garten elektrisch beleuchten werde und daß er darauf rechne, ich würde insbesondere seine Gartenmauer würdig illuminieren. Nicht so sehr zu Ehren Gladstones, den er übrigens hochschätzt, als zu Ehren seines Nachbars, eines Fabrikbesitzers, derzeitigen Bürgermeisters und Vorsitzenden der liberalen Partei von Leeds, der die unverdiente Ehre habe, Mr. Gladstone während dessen Anwesenheit in der Stadt zu beherbergen. Greig mußte sich deshalb darauf beschränken, in andrer Weise zu glänzen, und wollte dies wenigstens mit allen Mitteln der modernen Technik tun.

Die Sache interessierte mich anfänglich wenig. Gladstone ist zweifellos ein merkwürdiger Mann. Seine Reden, sagen meine englischen Freunde, sind wahre Muster der Beredsamkeit; ihre Zahl ist Legion, und ihre Länge nicht zu ermessen. Auch regiert er das Land im augenblicklichen Geiste der augenblicklichen Mehrzahl seiner Bewohner mit großem Geschick. Aber das ganze System ist nicht nach meinem Geschmack. Ich habe vielleicht unrecht, große Reden mit vielem Geschwätz zu verwechseln. Ich habe fast sicher unrecht, es peinlich zu finden, wenn ein großer Staatsmann seine ägyptische oder indische Politik in rollenden Phrasen den Schustern und Schneidern der Nation vorlegt. Aber ich kann das Regieren mittels Redenhaltens nicht begreifen, obgleich ich es täglich vor Augen habe und die ganze Welt dieser Richtung zutreibt, und konnte schon in frühester Jugend nie eine politische Rede ganz hinunterwürgen, selbst nicht Ciceros.

Wie mir nun aber Greig den Plan zeigte, den ein benachbarter liberaler Tischlermeister für die Gartenillumination ausgearbeitet hatte, konnte ich nicht mehr zurückhalten. Der Mann hatte im Sinn, aus einer Art von Futtertrögen den Namen des Gefeierten in Gasflammen hervorstrahlen zu lassen. Ich skizzierte ein griechisches Tempelchen. Im Fries: »Ehre dem Ehre gebührt.« Ein Lorbeerkranz, darunter »Gladstone«. An den zwei dorischen Hauptsäulen: »Frei Handel« – und »Frei Land« – die zwei Schlagworte, welche im Augenblick die innere Politik bewegen. Das alles sollte bei Nacht in feurigen Linien und Buchstaben strahlen.

Nun hatte ich das Vergnügen, eine Woche lang Versuche mit Gasröhren zu machen, Tischler in der Herstellung von dorischen Kapitälen zu unterrichten und über den Kraftverbrauch der elektrischen Lampen Untersuchungen vorzubereiten, die ich im Hinterhaus machen wollte, während wir Mr. Gladstone und das entzückte Publikum anstrahlten.

Mit knapper Not war alles fertig, fast in dem Augenblick, in welchem »der große, alte Mann« und seine Familie auf dem Bahnhof ankamen, von wo er nach seinem Absteigequartier und an unsrer Gartenmauer vorüberfuhr. Wir standen bereits in hellen Flammen. Der Lorbeerkranz fing zwar Feuer, wurde aber noch beizeiten gelöscht, worauf wir vorsichtshalber zwei Kübel Wasser hinter dem griechischen Tempel verbargen. Greig war glücklich. Seine Illumination war unstreitig die schönste der Stadt, und sein Geschmack wurde am andern Tag in allen Lokalblättchen hochgerühmt. Gladstone hielt vor unserm Haus, und auch ich konnte im grellen Schein der elektrischen Lampen die geistvollen Züge des zweiundsiebzigjährigen Mannes minutenlang studieren. Unser Nebenbuhler, der Bürgermeister, der gehört hatte, daß Greig elektrische Lampen anzünde, hatte ebenfalls um Licht telegraphiert. Aber sein Apparat war zu spät angekommen, und Gladstone mußte in bloßem Gaslicht zu Bett gehen. Das war ein Triumph für uns.

Am folgenden Tag hielt »the grand old man« drei Reden, zwei im Rathaus, wo ihm achtundzwanzig Adressen überreicht wurden, und eine bei einem Riesenfestmahl, das die liberale Vereinigung von Yorkshire gab. Bei dem letzteren war der Vorsitzende, unser Nachbar, leider ernstlich betrunken und sprach drei viertel Stunden lang zu Ehren des hohen Gastes, ohne etwas zu sagen. Nach dem Essen fuhr Gladstone an der Spitze eines Riesenfackelzugs unter strömendem Regen nach Haus. Das Vorüberziehen dauerte anderthalb Stunden, das Brüllen der beseligten Volksmassen ungefähr drei. Mein griechischer Tempel stand wieder in Flammen, aber der Regen und die Kübel retteten uns, ohne viele Mühe und Gefahr. Am Samstagmorgen konnte fast niemand mehr ein lautes Wort sprechen, außer der alte Gladstone, der wiederum drei große Reden hielt. Es war erheiternd, die leitenden Persönlichkeiten des Festes zu beobachten, wie sie mit den Gebärden des heftigsten Schreiens ihre Anordnungen gaben und ihre Pantomimen doch nur mit einem heiseren Flüstern begleiten konnten. Dieser Tag war der eigentliche Volkstag. Fast alle Fabriken hatten geschlossen, und mittags war zum Schluß eine Volksversammlung in der für diesen Zweck vergrößerten Halle der Tuchhändler, die gegen vierzigtausend Menschen faßt und dennoch zum Ersticken voll war. Da ich zuvor mit meinen elektrischen Messungen vollauf zu tun gehabt hatte, war dies meine einzige Gelegenheit, den großen Redner zu hören. Er kam unmittelbar von seiner zweiten Rede in der Leedser Handelskammer her. Der Vorsitzende kündigte deshalb an, daß, um Mr. Gladstone etwas Ruhe zu gönnen, ein halbes Dutzend andrer Redner zuvor sprechen würden. Wir sahen hierauf unsern Bürgermeister, wie er mit weit offenem Mund den Kopf schüttelte, mit dem Körper auf und ab fuhr, und mit den Fäusten die Rampe der Rednerbühne bearbeitete. Dasselbe Schauspiel gaben sechs andre Redner. Man ließ sich's längere Zeit lachend gefallen. Was sie sagten, konnte man ja am nächsten Montag, vermutlich wesentlich verbessert, in den Zeitungen lesen. Beim fünften unhörbaren Redner wurde da und dort aus dem wogenden Meer von Köpfen ein Schrei: »Gladstone!« hörbar; beim sechsten schrie es laut: »Gladstone! Gladstone!« aus allen Enden und Ecken, bis sich endlich der alte Herr mit dem klugen, aber etwas müden Gesicht erhob und fünf Minuten lang, ruhig dastehend, das nimmer enden wollende Brausen des Beifalls und Jubels der Tausende unter ihm beobachtete. Endlich wurde es still, und jedes Wort, das er sprach, hallte scharf und deutlich durch den gewaltigen Raum. Was er sagte, ist für Euch von keiner Bedeutung; die Veranlassung war keine welterschütternde. Interessant aber war, den Mann, der heute an der Spitze eines großen Volkes steht, in der vollsten Ausübung einer Tätigkeit zu sehen, die ihn so hoch geführt hat. Es steckt vielleicht doch etwas mehr im Wort, als diejenigen glauben, welche es nicht zu handhaben verstehen – wenigstens, wenn es von Grundsätzen und von einem Leben getragen wird wie die des alten Mannes, für den wir drei Tage lang geschrien und beleuchtet hatten.

Tags darauf war die Mehrzahl der Leedser Liberalen krank, und die Konservativen regten sich hörbar mit allerhand schlechten Witzen und Geschichtchen. Jetzt raucht das Städtchen wieder, Gott sei Dank!


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