Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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130.

Leeds, den 24. November 1879.

Auch einmal ein Geschichtchen aus Eurer nächsten Nähe. Heimatsgeschichten nennt man das heutzutag und fühlt schon beim Titel eine gewisse sanfte Rührung. Also, bitte!

Zugegeben: ich war nicht in der besten Stimmung, vermutlich infolge einer ungewöhnlichen Anzahl von Nachtfahrten, die, man mag machen, was man will, das Bett doch nicht ganz ersetzen. Ah, wenn Euer großer Ästhetiker und Volkserzieher Fr. Vischer in den letzten drei Wochen mit mir Schritt gehalten hätte, möchte ich wohl wissen, wo er mit seinen Füßen geblieben wäre! Als ich in betrübter Grämlichkeit auf dem Ulmer Bahnhof die Ankunft des bayrischen Kurierzugs erwartete, fiel mir die Ulmer Schnellpost mit dem zornbebenden Aufsatz des großen Gelehrten über die Entweihung von Eisenbahnsitzen in die Hand. War das derselbe Mann, der vor Jahren allen Kleinlichkeiten ins Gesicht schlug, der Respektabilität ein Ärgernis und dem Philistertum ein Schrecken! »Schartenmaier, Schartenmaier, dir auch singt man dort einmal!«

Einige Minuten später saß ich in dem durchgehenden Pariser Wagen, allein mit einer österreichischen Exzellenz, die in einem tiefen Wolfspelz begraben lag und schnarchte. Exzellenz hatten die Beine auf dem einen Wagensitz ausgestreckt; denn die trennenden Armlehnen sind zu diesem Zweck in jedem menschlich gebauten Wagen zum Zurückschlagen eingerichtet. Ich tat desgleichen auf meiner Seite. So schliefen wir den Schlaf der Gerechten bis Stuttgart. Hättest du es mit ansehen müssen, o selbsternannter Eisenbahnsittenlehrer, wie wir so, ahnungslos und ungestört, durch dein eignes Land fuhren, dir gewissermaßen mitten durchs Herz! Die Welt wird schlechter mit jedem Tag; du hast recht. Engländer und das rücksichtslose Eisenbahnfahren sind schuld daran.

In Stuttgart verschwand der Wolfspelz mit der Exzellenz und wurde durch ein studienbeflissenes Männchen ersetzt. Aber auch dieses – obgleich es ganz unzweifelhaft zu deinen Füßen gesessen hatte, o Hohepriester der angewandten Ästhetik – fühlte kaum ein Polster unter sich, als es seine zierlichen Beinchen hob wie ein Türke, sich ausstreckte und schnarchte, so gut es konnte.

Bei Bietigheim träumte mir, ich habe mich mit den Stiefeln im Brillengestell meines Nachbars verfangen. »Gehen Sie von meiner Nase herunter!« sagte dieser ärgerlich und suchte mich aufzuwecken. Ich wachte auch wirklich auf, natürlich erzürnt, und fragte ihn, ob er Vischer heiße? »Woher wissen Sie das?« rief er überrascht. Ich erklärte ihm meinen Verdacht. »Ah,« sagte er, »mit dem Aufsatz habe ich nichts zu tun; ich heiße Fischer mit dem F und halt' es in Tübingen nicht mehr aus. Ich bin auf dem Weg nach Straßburg.« – »Dann bitte ich Sie um Entschuldigung. Aber wecken Sie mich das nächstemal nicht unnötigerweise auf!« Er versprach's, und wir schliefen friedlich weiter. Nimm dir ein Beispiel daran, o Vischer mit dem großen V.

In Bruchsal träumte mir wieder. Diesmal war es ein wirklicher Traum: eine Art von buddhistischem Millennium sei angebrochen; die ganze Welt betrachtete ihre Nasenspitze, und es war uns allen unendlich wohl. Manchmal, etwa alle halbe Jahrhunderte, machte das Universum noch eine kleine unangenehme, rumpelnde Bewegung, aus alter Gewohnheit, dann aber war alles still; Friede, Nacht und Schweigen.

Doch jetzt rumpelt's wieder. Die bleichste der Morgendämmerungen zittert vor den triefenden Fenstern. Wir halten, mit einem Stoß. »Avricourt,« brummt eine heisere Bärenstimme, »dreiviertel Stunden Aufenthalt!«

– »Guten Morgen!« sag' ich vergnügt zu mir selbst. »Die Nacht ist hin und wir sind beizeiten an der Grenze.«

– Auch mein Fischer mit dem F erhebt sich und fragt schlaftrunken: »Sind wir bald in Straßburg?« – »Straßburg?« versetz' ich lachend, »Straßburg liegt zwei oder drei Stunden hinter uns. Wir haben beide gut geschlafen.«

– »Was?« schreit Fischer und springt auf wie ein elektrisierter Frosch, ballt seinen Reisesack, seine Plaids und seine Hutschachtel in einen wilden Klumpen und reißt das Fenster auf: »Schaffner! Aufmachen! Wo sind wir?«

– »Sind Sie nur ruhig!« ruft's aus dem Nebel zurück, »wir haben dreiviertel Stunden Aufenthalt. Appenweier, Appenweier!« – Jetzt war's an mir, aufzuspringen. »Was der Kuckuck soll das heißen? Schaffner! Schaffner!« – »Ja, sehen Sie,« sagte der Mann und kam jetzt höflich an unser Fenster, »in Bruchsal haben uns die Badenser wieder einmal sitzen lassen. Seit zwei Stunden, bis hierher, hat man uns an einen Personenzug angehängt. Aber von jetzt an, bis Straßburg, sind wir Güterzug.«

Zum Glück hatte ich vor ein paar Tagen in Wien die »Walküre« gehört und fühlte mich den unnatürlichsten Greueln gewachsen. Ich erhob meine beiden Hände gegen die Wagenlampe und rief innerlich mit der Donnerstimme Wodans:

»Grausig greulicher Gram!
Scheußlich schändliche Schmach!
Götternot, Götternot!
Der Ärmste bin ich von allen!«

Denn ich hatte Herrn Pilter in Paris für den Abend zu einer wichtigen Geschäftsbesprechung ins Grand Hotel gebeten.

»Legen Sie sich nur wieder hin!« sagte der Schaffner. »Das kommt alle Wochen ein paarmal vor. Die Badenser mit ihrem verdammten Schnellzug lassen uns immer sitzen. Um neun Uhr sind wir in Straßburg, und das beste ist, Sie nehmen den Abendzug zum Weiterfahren.«

Und so geschah's. Lächelnd brachten mir die Straßburger Bahnhofskellner mein Frühstück. Sie kannten die langen Gesichter, die wütenden Blicke, die gerunzelten Stirnfalten ihrer frühen Gäste. Meinen Grimm verbeißend, schlich ich in wirbelndem Schneegestöber um das herrliche Münster. In einem tödlich langweiligen Café las ich noch einmal, in einem Pforzheimer Weltblatt, des großen Ästhetikers herrliche Mahnworte über den Gebrauch der Füße auf Eisenbahnen; und von Zeit zu Zeit konnte ich mit Hilfe eines Fahrplans ausrechnen, wo ich wäre, wenn »uns die Badenser nicht immer sitzen ließen«.


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