Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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94.

Leeds, den 2. Januar 1876.

Die Christfeiertage sind vorüber, und das neue Jahr ist angebrochen. Ob man will oder nicht, man kann's nicht vermeiden, mit den Wölfen zu heulen. Auch ist es nicht ganz undeutsch, wenn man sich um diese festliche Jahreszeit den Magen verdirbt. Die Art aber, wie der angelsächsische Zweig der germanischen Familie seine Christenpflichten versteht und – was mehr ist – erfüllt, muß erlebt sein. Arme Tagelöhner und Lampenanzünder rotten sich Monate zuvor zusammen und legen wöchentlich einen kleinen Beitrag in eine Kasse, um am Weihnachtstag, einmal im Jahr vielleicht, sich gründlich – nicht zu betrinken, was wohl dem Deutschen anstünde – sondern vollzuessen. Für eine etwas höhere Klasse mästet jedes Kneipchen eine Gans oder einen Truthahn, der am Vorabend des Christfestes herausgewürfelt wird. In unsern Kreisen ist ein Essen nicht genug. Vierzehn Tage lang ist der Truthähne, Gänse und der altbewährten »Barons of Beef« kein Ende, und mit Seufzen schleppt sich selbst der kräftigere Magen von einem Plumpudding zum andern. Ein Franzose hat unlängst in einem Buch über England mit vielem Ernst nachgewiesen, daß bei diesen Insulanern das Essen zur Nationalreligion gehöre. Daß es zur feierlichsten Bußübung wird, habe ich selbst Gelegenheit zu beobachten, nicht bloß an mir. Mit unverhehlter Angst sieht auch ein Teil der Eingeborenen die Festzeit herannahen, erinnert sich an die Leiden des vorigen Jahres, berechnet die Abnahme seiner Verdauungskraft und versieht sich zum voraus mit Pillen und fördernden Tränkchen. Daß all dies zu vermeiden wäre, ist ein nicht zu fassender Gedanke. Ergebung ist die Stimmung, in der man der ersten Einladung entgegengeht und den letzten mincepie in Branntwein tränkt.

Es hat freilich alles seine zwei Seiten, und ein Volk, dessen Herz – und es hat ein Herz, wenn auch etwas anders geformt als das unsre – auf dem Umweg durch den Magen gepackt werden kann, hat die Pflicht, diesen Weg wenigstens einmal im Jahr einzuschlagen. Bei Leuten, die vom Firniß der Kultur unberührt sind, wird uns dies deutlich. Gestern abend, von halb sechs bis Mitternacht, war bei Greig das alljährliche Festessen unsrer Werkführer: etliche fünfundzwanzig Mann, die keinen schlechten Appetit mitbringen. Ein originelles Bild: die eleganten Zimmer, der reichbesetzte Tisch, und die Gesellschaft, in ihrem Sonntagsstaat natürlich, aber doch in jeder Bewegung, in jedem Wort der ungelenke, gutmütige Schmied, der denkende, oder wie man's in süddeutschen Werkstätten heißt, der »spinnende« Dreher, der halbtaube Kesselschmied. Und wie das allmählich auftaut! Wie die Empfindung, ein Stück desselben Ochsen nächst dem Herzen zu tragen, dieselbe Gans, denselben Gockel zu kauen, die Seele der Seele näher bringt! Wie sich dieses Gefühl in unartikulierten Lauten, in freundlichen Rippenstößen reckt und dehnt, und wie es schließlich ausbricht, mächtig, unbändig, alle Formen sprengend, in Deklamation, Reden, unverständlichen Gesängen und Bärentänzen! Greig und seine Frau sind bei solchen Gelegenheiten unübertrefflich. Er ist imstande, seinen Leuten einen schottischen Reel vorzutanzen, ein Solo, vor dem sich kein schwäbischer Hopser sehen lassen kann. Sie macht sich nichts daraus, den nächsten besten Schlossermeister in eine Ecke zu wirbeln und über einen krachend zerbrechenden Stuhl zu schleudern. Alles im Geist der altschottischen, bärenhaft gutherzigen Gastfreundschaft! Einmal im Jahr tut so etwas mehr gut als die schönsten sozialen Rezepte. Aber es gehören eigne Menschen dazu, und die Sache kann anderwärts nicht nachgeahmt werden.


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