Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

70.

Runcorn, den 10. August 1873.

Ein Ruf nach England war mir eine wahre Erlösung. Seit Wochen sehne ich mich nach Arbeit, wirklicher Arbeit. Zum Repräsentieren bin ich nun einmal nicht zu gebrauchen; ich muß etwas zu schaffen haben; wenn ich leben soll. Mein Sehnen sollte endlich Befriedigung finden. Genau fünfzig Stunden brachten mich am Sonntagabend nach London, in den kühlsten Sommerregen, den sich ein vertrockneter Mensch nur wünschen kann.

Am Montag sah ich Mr. Fowler, der mir manches über die Arbeiternöten in Leeds mitteilte. Infolge hiervon konnten in den letzten vierzehn Tagen fertige Maschinen im Werte von nur £ 500 anstatt wie durchschnittlich von £ 25 000 versandt werden. Man überlegt seitens der Fabrikherren eine allgemeine Arbeitseinstellung in Yorkshire. Über hundert unsrer Monteure hatten seit drei Wochen die Arbeit niedergelegt, weil ein Mann, der sich weigerte, eine gewisse, sehr notwendige Arbeit nachts fertig zu machen, durch einen andern ersetzt worden war. Ein Kampf, bei dem die Waffen Hunger und Verderben sind, hat seine bitter tragischen Seiten. Das schlimmste ist, daß auch hier wie überall, wo es sich um wirklich ernste Fragen zwischen Mensch und Mensch handelt, kein andres Mittel übrig bleibt als das andrer wilder Tiere.

Am Dienstag war ich in Leeds. Das Bridgewaterkanalboot, die Veranlassung meiner Reise nach England, war bereits auf dem Weg nach Manchester. Es sollte dort in aller Eile in Gang gesetzt und den Direktoren der Kanalgesellschaft vorgeführt werden.

Drei Tage später machte ich die erste Probefahrt für mich allein. Ich hatte eine Meile Seil auf einer Strecke gelegt, welche zwei der schärfsten Krümmungen des Kanals einschloß. Die Maschinerie arbeitete vortrefflich. Dagegen wollte das Umfahren der Krümmungen nicht gelingen. Nach einer zweimaligen Fahrt lag mein Seil statt im Kanalbett hoch und trocken am Ufer und ging durch den Garten einer alten Frau, die denselben mit großer Lebhaftigkeit für nicht schiffbar erklärte. Der Unterschied zwischen unsern seitherigen Erfahrungen und meiner gegenwärtigen Aufgabe lag darin, daß wir bisher mit tieferen Flußbetten und größeren Geschwindigkeiten des Wassers zu tun hatten als hier, und die dadurch gegebene größere Steuerkraft des Bootes es ermöglicht hatte, das Seil in seiner ursprünglichen Lage zu erhalten. Doch war ich nach einigen Abänderungen am nächsten Tag imstand, den Garten der alten Frau aus dem Spiel zu lassen, und fuhr am dritten wie ein Fisch um die beiden Ecken herum.

Bis jetzt war es mir nur möglich gewesen, ein oder zwei Boote zum Schleppen zu bekommen, weil der Verkehr auf dem Kanal nicht ohne besondere Erlaubnis der Kanalbehörden gestört werden durfte. Wir hatten aber vertragsgemäß fünf Boote mit einer gewissen Geschwindigkeit zu ziehen. Dieser Versuch kam nun am letzten Donnerstag an die Reihe. Hierbei zeigte sich, daß wir in betreff der Kraft und Geschwindigkeit alle Erwartungen übertrafen, hingegen abermals in den Krümmungen ernstliche Schwierigkeiten hatten, obgleich ich den Bootzug schließlich ans Ziel brachte.

Auf Freitag waren die sämtlichen Direktoren der Kanalgesellschaft eingeladen, dem entscheidenden Versuch beizuwohnen. Ich hatte Tag und Nacht gearbeitet, um durch eine neue Vorrichtung die Mißlichkeiten in den Krümmungen zu beseitigen. Noch am Donnerstagabend probierte ich die Sache. Aber während ich mit meinem Boot am oberen Ende der Strecke war, zerriß der Zufall oder ein Bösewicht die Verankerung des Seils am unteren Ende. Es war ein ernster Abend. Nur ein Vormittag stand mir noch zur Verfügung. Die Direktoren sollten um zwei Uhr kommen. Um eins war alles so weit wieder in Ordnung, daß wenigstens die Möglichkeit eines erfolgreichen Versuchs gegeben war. Die Fahrt gelang – und niemand merkte, wie die Sache an einem Haar gehangen hatte.

Ich könnte einen dicken Brief über die zwanzig Minuten schreiben, von denen die Entscheidung abhing, ob uns der Bridgewaterkanal noch länger zur Verfügung stehen werde oder nicht. Die Schwierigkeiten können überwunden werden; das ist keine Frage. Seit gestern bin ich hier, um die nötigen Arbeiten einzuleiten. Was ich brauche, ist vor allem die Kunst, den Leuten um mich her ein wenig Geduld einzuflößen. Das ist oft schwerer als alles andre.


 << zurück weiter >>