Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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117.

Paris, den 1. Juli 1878.

Das Gestern spielt noch in das Heute herüber, daß ich mir kaum klar darüber werden kann, was heute und gestern ist. – Laßt mich deshalb ohne viel Federlesens beginnen.

Morgengrauen! Der 30. Juni, der große Nationalfesttag war angebrochen, und ich war entschlossen, ihn bis zur Hefe zu genießen, wenn solche aufzutreiben. Da ich Besuch hatte, so kam's, daß wir zu Vieren das große Fest antraten, ich als stadtkundiger Bärenführer, die andern als die Angeführten.

Die Vorbereitungen der Feier verdienten an sich eine Beschreibung. Es war ein förmlicher Frosch- und Mäusekrieg um das Wann, Wie und Was? Voltaire und die Jungfrau von Orleans, Revolution und Bonapartismus, das wiedererstandene Frankreich und die Weltbrüderschaft der Nationen: alles wollte gefeiert sein und feiern. Wenn es sich nicht um die größten und ernstesten Interessen eines Volkes handelte, würde ich mich lediglich an die Komik dieser vorbereitenden Kämpfe um das große Friedensfest halten; aber der tiefe Zwiespalt, der sich kaum auf Tage und Stunden überkleistern läßt und in den ungeeignetsten Augenblicken an allen Enden und Ecken wieder ausbricht, mahnt allzusehr an eine ungewisse, düstere Zukunft, so daß selbst dem heitersten Zyniker das Lachen vergehen kann. Wo soll's hinaus?

Zunächst hatten diese Verhältnisse zur Folge, daß dem Fest alle tiefere Bedeutung aufs Vorsichtigste genommen werden mußte. Trotz der schönsten Deklamationen in den Blättern hatte der ganze Tag keinen einzigen erhebenden Augenblick, kein großes Wort, keinen ergreifenden Ton. In Wien, trotz alles kleinen Elends, hatte doch die österreichische Nationalhymne unter dem leeren Dom der Weltausstellung am Eröffnungstag etwas Packendes, man wußte kaum, warum. Selbst das fehlte hier. Bunte Flaggen und Fläggchen zu Tausenden, Lampen und Lämpchen zu Millionen, das war's. Kaum ein Volksfest; ein Kinderfest, großartig in seiner Masse und teilweise in seinem unerreichbaren französischen Geschmack, aber harmlos und sinnlos bis zur Fadheit. Auf dieser Grundlage war Friede und Brüderlichkeit allein möglich.

Wir begannen in der Madeleine, vor dem klassischen Prachtbau inmitten des modernen Farben- und Formengewimmels der großen Boulevards. Hier schon verspürten wir einen kleinen Mißton. Es war heute auch das Fest des »heiligen Herzens Jesu«, und rote Kirchendiener hüllten die korinthischen Säulen der Fassade in roten Plüsch! Wollten sie der feiernden Republik vielleicht sagen: »Kuder, Kuder, ich bin röter als du?«

Von dort ging's auf dem Dach eines Omnibusses den ganzen großen Boulevards entlang nach dem Bastilleplatz. Das bleibt immer eine reizende Fahrt und auf keine andre Weise so voll zu genießen als von der demokratischen Höhe herab, die jedem Besitzer von fünfzehn Centimes zugänglich ist. Die prächtigen Häuser, nicht imposant durch Stil und Größe, aber bunt und mannigfaltig, voll von pulsierendem Leben, die stattlichen frischgrünen Bäume, hinter denen sich die Gebäude halb verstecken, das Treiben und Wogen auf den Bürgersteigen, die sanften Krümmungen und Biegungen der meilenlangen Straße, die nirgends das Monotone einer geraden Linie bietet: man kann's zum hundertstenmal sehen und freut sich immer wieder daran. Heute natürlich schließen sich soeben die letzten Läden, die in den ersten Morgenstunden unpatriotisch genug gewesen waren, sich zu öffnen. Rotweißblau, die heiterste der Nationalfarben, hängt aus allen Fenstern, in allen Größen, in allen Formen, als Fahne, als Standarte, in langen, schmalen Streifen, in breiten Teppichen, in Girlanden und chinesischen Lampen, in Kugeln und Sternen.

Den Boulevard de la Madeleine entlang, dann am Grand Hotel und an der Oper vorüber ist es verhältnismäßig ruhiger. Der Hauptausbruch des Fahnenfiebers fängt mit dem Boulevard des Italiens an. Ein Blick in die Seitenstraßen, namentlich durch das gewaltige Tor von St.-Denis und das von St.-Martin ist packend. Die langen Reihen der hohen Häuser, vom Giebel bis zum Erdgeschoß alles, alles in bunten, flatternden Farben, Girlanden aus Baumwolle von Haus zu Haus, quer über die Straßen, prachtvolle Sonnen, Monde und Sterne aus dem schönsten Papier. Und unten Kopf an Kopf jetzt schon, morgens um zehn Uhr, eine summende, wogende, jubelnde Volksmenge, da und dort ein Fiaker, sogar ein Omnibus, wie ein Schiff in Not umsonst gegen die Wogen ankämpfend. Das sind sie, aus den Stadtvierteln des Mittelstandes, biedere, fleißige Leute, denen es ernst ist mit ihrem Feiertag. Alles auf unserm Omnibus steht gelegentlich auf und schreit: »Ah!«, wenn uns ein solcher Blick in das Innerste der Stadt gestattet ist. Nur im Schritt geht es vorwärts. Die Pferde schieben Kinder und Frauen vorsichtig auf die Seite, als hätten sie Ellbogen. Doch müßte nachmittags und abends jeder Verkehr mit Wagen eingestellt werden.

Vom Bastilleplatz und seinen Vorbereitungen für das abendliche Feuerwerk gingen wir zu Fuß durch die Straße St.-Antoine, am künftigen Stadthaus vorüber, das sich eben aus seinen Trümmern zu erheben anfängt. Wo sind heute die Menschen, die sich hier vor etlichen Jahren auch Kopf an Kopf drängten, blutrote Fahnen schwangen und ein Feuerwerk anzündeten, wie es die Welt selten schauervoller gesehen hatte?

Jetzt über die Seine nach Notre-Dame und im Vorübergehen in die Kirche. Der Gegensatz war nicht übel. Eben begann der Nachmittagsgottesdienst mit einem Umzug in den Seitenschiffen. Dämmerung und Kerzenlichter, wispernde Stille und ernste Orgeltöne; dabei alles französisch genug, weich und einschmeichelnd; Gounod und Verdi auf den Knien, soweit sie es imstand sind. Zum Glück halten es die alten gotischen Mauern aus, wie schon so vieles andre. In dieser Gegend sind die Flaggen seltener. Der moderne Feststurm bringt die alte Cité von Paris kaum aus ihrer feierlichen Ruhe.

Von da mit einem Seinedampfer nach der Ausstellung, nur um zu sehen, wie's da unten aussieht. Es ist der erste Viertelfranktag. Man erwartete Millionen, aber man täuschte sich. Es war leerer als gewöhnlich. Verwirrte Bäuerlein aus der Normandie und Bretagne verloren sich wohl bis hierher; indessen, niemand hatte Zeit, am höchsten Ausstellungstagfest die Ausstellung zu besuchen.

Auch wir machten uns sofort wieder aus dem Staub und zu Fuß über die Seine nach Passy hinauf. Man hat von dort einen prachtvollen Blick über das Marsfeld und den südlichen Teil von Paris. Es dämmerte schon. Da und dort blitzte ein elektrisches Licht, da und dort, wo sich in weiter Ferne Feuerwerke rüsteten, stiegen schon Signalraketen auf. Der Dom der Invaliden zeigte einige goldene Pünktchen, und nach zehn Minuten glänzte von seiner Spitze eine stille, feierliche Lichtkrone. Alles Kleine verschwand in der Dämmerung. Man ahnte ein großes Ganzes: das unbegreifliche und unbegriffene Weben und Wogen des Lebens und der Menschheit. Doch wir hatten keine Zeit zu verlieren; wir waren hier allzuweit entfernt von den Mittelpunkten des Festes, und die allgemeine Beleuchtung begann. Also im Sturmschritt durch Passy, das auch schon aufzuflammen begann. Herr, Frau und Magd waren am Anzünden, die Kinder vor den Häusern, in tollen Bocksprüngen, außer sich vor Jubel. Keine Frage, hier war es ein Volksfest.

Hinter Passy berührten wir den Bois de Boulogne. Die ganze Stadt schien sich dort zusammengedrängt zu haben. Aber eine höfliche, freundliche, gutmütige Ordnung beherrschte trotz alles Drängens die Tausende und Hunderttausende. Nirgends zeigte sich ein andrer Gedanke als der: de s'amuser. Jetzt betraten wir das riesige Gebiet der städtischen Beleuchtung und Feuerwerke. In den Bäumen hingen Millionen von Papierkugeln, jede ein Licht bergend. Die Wirkung auf dem hügeligen Grunde um die Seen war feenhaft. Auf den Teichen selbst schwammen lautlos Gondeln, begraben in Licht und Farben. Auf den Inseln strahlten Gartenzelte und Lusthäuschen in hundert Flammen und spiegelten sich in dem stillen Wasser. Dann begannen an drei, vier, fünf verschiedenen Punkten Raketen und Schwärmer, Bienenkörbe und Feuerräder zu spielen. Es strahlte und sprühte, knallte und blitzte aus allen Büschen, aus allen Wassern. Man konnte auf Minuten das Gefühl verlieren, daß man sich doch eigentlich noch auf dieser Welt befinde. Ohne Zweifel war eine bestimmte Ordnung in der Aufführung. Die Feuerwerke waren sinnreich gruppiert und gingen in wohlbedachtem Zeitmaß los. Aber das Schöne war, daß die Hunderttausende der Zuschauer, die durch Berg und Tal wogten, dies gar nicht bemerkten; Schatten und Lichter, jede Minute wechselnd, spielten so phantastisch, daß die Kunst verschwand, und die Natur selbst zu feuerwerken schien. Goldenes Wasser, gelbe Bäume, roter Himmel, grüne Menschen, alles war zu sehen. Und alles verschwand urplötzlich, um im nächsten Augenblick neu aufzutauchen: rotes Wasser, grüner Himmel, blaue Bäume, goldene Menschen. Das dauerte zwei Stunden lang. Kinderherz des Volks, was willst du mehr? Goldene Menschen!

Auf Einzelheiten darf ich mich nicht einlassen. Nur eins! In einem abgelegenen Wäldchen hoher Tannen war ein Dutzend großer Glaskugeln auf Stangen gesteckt, und in jeder brannte ein elektrisches Licht. Von der Ferne sah dies aus, als ob wirklich zwölf echte Monde am Himmel stünden. Es war eines der hübschesten Zauberstückchen dieser wundervollen Nacht. Nun aber fühlte die Menge, daß es zu Ende sei. Noch sprühte es in allen Enden und Ecken, aber langsam setzte sich der Rattenkönig von vielleicht viermalhunderttausend Menschen in Bewegung, Paris zu. Man kam nur im Schritt vorwärts. Kleine Frauen schrien manchmal zwischen den Beinen der schwarzen, kompakten Masse. Kinder saßen schlafend auf den Köpfen ihrer Väter. Der ganze Bois de Boulogne bewegte sich wie ein Gletscher und seine Moränen langsam in großen, dicken Strömen dem Triumphbogen der Champs Elysées zu. Sollte man's für möglich halten, daß ich zwei gute Freunde aus Leeds in diesem Meere fand? Fand, aber natürlich auch alsbald wieder verlor.

Gegen den Triumphbogen hin und von dort nach dem Platz de la Concorde schwamm der ganze weite Weg in farbigem Feuer. Elektrische Flammen um den Triumphbogen, meilenlange Girlanden aus Gasflammen entlang den Elysäischen Feldern, chinesische Laternen und europäische Talglichter in allen Fenstern. Der Platz de la Concorde mit seinem ägyptischen Obelisken, der schon vor dreitausend Jahren so manches Volksfest gesehen haben mag, strahlte taghell im Glanz des jüngsten Lichtes, der Elektrizität. Seine Springbrunnen schauerten Silber und Diamanten gegen den dunkeln Nachthimmel. Noch weiter nach Osten, hinter den schwarzen Kastanien des Tuileriengartens, lagen in roter Glut der Louvre, das Palais Royal und die Ruinen der Tuilerien mit ihrem neuesten und schon brandgeschwärzten Wahrspruch »Liberté, Fraternité, Egalité!« auf den zerbröckelnden Mauern. Es war genug.

Morgens gegen zwei Uhr saßen wir wieder am Fuß der Madeleine, wo wir unsern Marsch begonnen hatten, und tranken die letzte Flasche des Tags. Auch die Kirche hatte beleuchtet. Es waren nur zwei Reihen enggestellter Gasflammen, welche die Außenlinien des Giebels andeuteten, und ein feuriges Kreuz darüber, scharf in den tiefdunkeln Nachthimmel hineingezeichnet. Man konnte sich nichts Einfacheres denken und nichts, nach all dem Geprassel und Gefunkel, das ergreifender wirkte. Es versöhnte mit dem Plüsch des Morgens; es versöhnte mit dem ruhelosen Sturm des ganzen Tags.


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