Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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154.

Donnerstag.

Da ich's versprochen habe, muß ich's wohl halten und ein allerletztes Bulletin ausgeben. Aber mein ganzes Leben lang behalte ich mir das Recht vor, auf diese Briefperiode zu verweisen, wenn mich die Faulheit übermannt.

Hätte ich kein Knie, so wäre mir fast pudelwohl. Doch hinke ich auch in dieser Beziehung bereits ohne Stock herum, wobei mir kleinere Fußpartien, zum Beispiel vom Tisch ans Klavier, noch genügen. Mein Kopf ist ganz in Ordnung und verrückter als je. An Unterhaltung fehlt mir's nicht. Briefe genug, vom Geschäft herauf. Die Ägypter werden ungeduldig. In Rußland fängt die Geschichte mit Butler-Johnston wieder an, in Portugal will jemand Seiltauen und in Rumänien soll ich beim ersten Frühlingssudelwetter gewiß nicht fehlen, meint mein »Freund« Negroponte.

Morgen gehe ich zum erstenmal aus, allerdings zu Wagen und zum Zahnarzt oder richtiger Zahnmechanikus – denn an Zähnen, die nicht da sind, ist schwer zu doktern – auch ein wenig in die Fabrik.

Mein Kopf hat seine Hauptprüfung auf rückwirkende Festigkeit rühmlichst bestanden, ohne die Elastizitätsgrenze zu überschreiten. Diese technische Auffassung der Sache werdet Ihr zwar nicht verstehen, wohl aber ahnen, daß nichts mehr zu befürchten ist als etwa eine Wiederholung. Das steht in der Macht dessen, der auch die Sperlinge vom Dach fallen läßt, und der wohl weiß, warum. Wenn es auch die Sperlinge ihrer Lebtage nicht begreifen.

Ihr werdet nachgerade wissen wollen, wie das alles gekommen ist. Ich erzähle es mit Vergnügen, unter der Bedingung, daß Ihr mit mir die Sache in ihrer ganzen Einfachheit ansehen wollt. Der Unfall war einer von denen, die in unserm mechanischen Leben zu tausend Malen vorkommen und: »Der gefallen, ist wie ein andrer Mann«. Die von Negroponte bestellten Dampfpflugmaschinen sind eine völlig neue Gattung, sogenannte Verbundmaschinen, von einer Form, die noch nie für Dampfpflüge und nur ausnahmsweise bei Lokomobilen verwendet wurde. Ich schrieb schon von Bukarest aus, daß es das Beste wäre, zunächst eine Versuchsmaschine zu bauen, an der wir sämtliche Eigentümlichkeiten des Prinzips gründlich studieren könnten, um dann erst die Verhältnisse der rumänischen Maschinen festzulegen. Es geschah, und schon eine Woche lang war ich mit den erforderlichen Versuchen beschäftigt.

Mit den Geheimnissen von Bremsversuchen und Indikatordiagrammen werde ich Euch nicht belästigen. Wesentlicher ist, daß ungefähr zweieinhalb Meter vom Boden um die auf dem Kessel liegende Maschine herum ein Fußbrett führt, auf das man mittels einer Leiter gelangt. Auf diesem Brett stehend arbeitete ich, wie schon hundertmal in ähnlichen Fällen, mit besonderem Behagen. Es war schon zwölf Uhr vorbei. Ich war eben fertig für die Woche und trat mit einem Fuß auf die Leiter, meine Diagramme und mein Notizbuch in den Händen. Die Leiter schlüpfte. Da die Maschine noch in vollem Gang war, konnte ich mich nirgends halten und machte einen verzweifelten Versuch, das Fallen auf die laufende Maschine durch einen Sprung zu vermeiden. Dies war ohne Zweifel nicht ganz richtig. Aber man hat in solchen Augenblicken wenig Zeit, statische Berechnungen anzustellen. Ich rettete mich zwar erfolgreich in die Luft, drehte mich aber dann um und flog, mit dem Kopf voraus, weiter.

Noch immer wundere ich mich über die Länge der nächsten halben Sekunde. Meine Lage war mir vollständig klar, und ich hatte Zeit, in ebensovielen Worten zu denken: »Jetzt bin ich nur begierig, wie das weiter geht!« Auch dachte ich an etliche Papiere zu Haus, die nicht in der Ordnung waren, wie ich sie gerne hinterlassen hätte. Dann kam ein fürchterlicher, aber völlig schmerzloser Schlag und bewußtlose Betäubung, wie mir schien, ein paar Sekunden lang. Denn ich wunderte mich sofort wieder, wie wenig weh die Sache tat, und drehte mich um, mit dem einzigen Wunsch, daß mich die Leute ruhig liegen lassen möchten. Dann fühlte ich eine gewisse Neugier, zu erfahren, ob meine Hirnschale noch brauchbar sei, und machte mit beiden Händen einen Versuch, wobei ich bemerkte, daß die Nässe in meinem Gesicht Blut war. Ich war, oder glaubte wenigstens bei vollständig klarem Bewußtsein zu sein und betrachtete die Möglichkeit, daß mein Leben in wenigen Minuten vielleicht abgeschlossen sein könnte, mit wohltuender Ruhe. Ein nettes Leben und keineswegs ein unpassendes Ende, war mein Eindruck. Der liebe Gott wird wissen, was er wollte. Natürlich dachte ich auch an Euch; aber das Schicksal meiner Brille beunruhigte mich nicht minder.

Jetzt aber begann, wie bei den meisten ernsten Szenen des Lebens, ein komisches Zwischenspiel, das mich im Lauf der letzten Tage und Nächte stundenlang erheiterte. Ich schlug nämlich die Augen auf und sah unmittelbar über meiner Nase zwei schwarze Gesichter, die zueinander sagten: »Brandy! (Branntwein!) Schnell, schnell, Brandy!« Branntwein ist nämlich im Norden Englands, und auch im Süden, das Heilmittel gegen alle Schmerzen des Leibes und der Seele. Mit bewundernswerter Geschwindigkeit war denn auch ein Glas Branntwein da und wurde mir mit liebevoller Zärtlichkeit eingegossen, während zwei, drei weitere Gläser herbeieilten, als gelte es, eine Feuersbrunst zu löschen. Henry Fowler und einer der Buchhalter stellten mich dann auf die Beine und führten mich nach dem Waschzimmer des Bureaus, das »mit allen Vorrichtungen der Neuzeit« ausgestattet ist. Ich konnte mit Unterstützung gehen. Doch mußte ich mich wieder setzen, während sie mich wuschen. Als Henry dies bemerkte, sagte er: »Ich glaube, wir müssen ihm etwas Brandy geben!« Und wieder stürzten, hilfsbereit, ein halbes Dutzend Leute davon und brachten die nötige Stärkung. Da das bequemste Sofa in Greigs Zimmer steht, so wurde ich dorthin geschleppt und legte mich nieder, bis ein Fiaker geholt war. Hier hörte ich Greigs Stimme auf der Treppe: »Wo ist er?« – »In Ihrem Zimmer!« –»Ist er tot?« –»Nein!« –»Gebt ihm etwas Brandy!« –Dann kam der Fiaker. Ich stand auf. Da ich offenbar etwas wackelig war, wurde die Ansicht ausgesprochen und fand allgemeinen Anklang: »Es wäre doch besser, wenn Sie etwas Brandy tränken, eh' Sie gehen.« Widerstand war vergebens. Der junge David Greig und ein Buchhalter fuhren mit mir, während ein dritter Greig nach einem Arzt ging, der wenige Minuten nach mir in meiner Wohnung eintraf. Ich lag wieder auf dem Sofa, durch die etwas lange Fahrt erschöpft. Der Arzt betrachtete mich aufmerksam und teilnehmend. Dann sagte er zu meiner Wirtin: »Haben Sie Brandy hier? Es wird am besten sein, ihm zuerst etwas Brandy zu geben.« Ich konnte nicht umhin, so laut zu lachen, als die Verhältnisse es erlaubten, was allerdings nicht sehr laut war.

Wollt und könnt Ihr die Sache nicht ruhig ansehen, wie sie es verdient? Ich gebe gerne zu, daß die Entfernung und die Ungewißheit, welche manchen Naturen eine Erleichterung wäre, andern das Leid der Stunde verdoppelt. Aber doch muß ich fragen: »Ist das Leben all den Jammer wert?« Wieviel Bitteres bringt es, wieviel Enttäuschung, wieviel Langeweile und Ärger, und wie wenig reine Freuden! Wir sehen und wissen das, und sagen es uns häufig mit vieler Salbung. Und wenn dann der Augenblick kommt, wenn für eines von uns all das Elend aufhören soll, so wollen wir uns nicht trösten lassen! Ich begreife es nicht!

Froh bin ich, daß ich nicht ein paar Meter tiefer gefallen, und von Herzen dankbar, daß ich nicht als Krüppel davongekommen bin. Aber ich kann nicht allzusehr jubilieren; wie ich auch – das weiß ich jetzt gewiß – nicht allzusehr geklagt hätte, wenn es anders gegangen wäre. Die Quäker haben recht. Der Abschied mag weh tun, das ist eine Sache persönlicher Weichheit. Aber das Leben an sich ist die Tränen nicht wert, die man darum weint.


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