Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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118.

Paris, den 29. Juli 1878.

Vor etwa dreiviertel Jahren hielten die dicken Häupter des landwirtschaftlichen Maschinenbaus eine Versammlung in London, um sich zu verschwören. Das Ergebnis war ein langer Schreibebrief an den Prinzen von Wales als Präsidenten der englischen Ausstellungskommission, mit der Bitte, er möge das Seinige tun, um die beabsichtigten Versuche und Prüfungen, die in Verbindung mit der Pariser Weltausstellung stattfinden sollten, zu hintertreiben. Erstens kosteten sie zu viel Geld; zweitens seien sie nichts wert; drittens sei es unmöglich, auch nur einigermaßen brauchbare Richter und Leiter einer derartigen Komödie zu finden; viertens sei es nicht billig, daß große Fabriken ihren Ruf solcher Lotterie und Schwindelei aussetzen; fünftens falle es niemand ein, Lokomotiven oder Sägmühlen oder Wasserräder zu prüfen, warum also landwirtschaftliche Maschinen? und so weiter. Das alles ist wahr; namentlich können die großen Fabriken bei derartigen Versuchen höchstens verlieren; und dies war des Pudels Kern. Die Sache führte zu langen Verhandlungen, die damit endeten, daß die Engländer unter sich vereinbarten, den Versuchen fernzubleiben. Einzelne konnten aber schließlich doch der Versuchung nicht widerstehen, hinter dem Rücken ihrer Mitverschworenen an den amtlichen Proben teilzunehmen. Die wohlverdiente Strafe blieb diesen Abtrünnigen nicht erspart.

Mir verschaffte die im allgemeinen widerwärtige Geschichte eine heitere Stunde durch die Erzählung eines Landwirts und Weinbauers aus Bordeaux, der die Mähmaschinenprüfung in Marmont besuchte; ein dicker, winziger Herr, mangelhaft rasiert, aber voll feurigen Ernstes für das, was er will, keuchend vor Eifer, noch ehe er läuft, alsdann aber auch seine kleinen Beinchen rücksichtslos gebrauchend, wenn er eine Möglichkeit sieht, sein Ziel zu erreichen. Aveling, unser alter Konkurrent, hatte eine Dampfmähmaschine angemeldet. Diese wollte Mr. du Plessy besichtigen, um sie möglicherweise mit Dampfpflügen, die er von uns bezogen hatte, zu verbinden.

»Und so setze ich mich,« sprudelte er heraus, »auf die Eisenbahn, reise die ganze Nacht durch von Bordeaux nach Paris und komme morgens um sechs Uhr an. Um acht Uhr weiter nach Marmont. Dort sind wir um zehn Uhr, heiß, heiß, hungrig. Aber wir sind am Ziel und das ist prächtig! Fünfundvierzig gewöhnliche Mähmaschinen – so wenigstens steht in den Zeitungen –, dazu noch die selbsttätigen amerikanischen Garbenbinder und vollends die neue Dampfmähmaschine! Was kann man mehr verlangen? Flaggen, Banner, Girlanden am Bahnhof, im Dorf, überall! Militärmusik, Gendarmen zu Pferd, gezogene Säbel, prächtig, splendid! »Aber wo sind denn die Mähmaschinen?« frage ich. Niemand weiß es. Man zeigt mir eine Tribüne. Dort steht das Komitee der Landwirtschaftsgesellschaft von Frankreich, meines Vaterlandes, um den Minister zu empfangen. Ich hinauf und stelle mich vor. Man überschüttet mich mit Höflichkeiten. »Wo sind die Mähmaschinen?« Der Vizepräsident schüttelt mir sechsmal die Hand, aber versichert zugleich, er wisse es nicht. Zwei Untersekretäre beglückwünschen mich zu meiner Ankunft, wissen's aber auch nicht. Musik, Schüsse, Fahnenschwenken. Der Minister ist da, und die Sekretäre versinken in einem Meer von schwarzen Fräcken. Plötzlich steigt alles in Wagen. Die Wagen sind voll; fort geht's im Galopp. Und da steh' ich und frage noch immer: »Weiß denn niemand, wo die Mähmaschinen sind?« »Folgen Sie den Wagen!« ruft ein Gendarm, zieht den Säbel und galoppiert davon. Von einem Fuhrwerk nicht eine Spur, nicht um tausend Franken. Aber ich will nicht umsonst von Bordeaux gekommen sein. Ich galoppiere auch, zu Fuß, zwei Kilometer, vier Kilometer. Zuerst sind's Hunderte von Leidensgefährten um mich her, in Blusen, in Röcken und Fräcken, in Hemdärmeln, blau im Gesicht, mit den Zungen aus dem Mund, wie Hunde; dann ist's noch ein Dutzend, dann noch drei oder vier. Die Staubwolken, die die Wagen aufwirbeln, sieht man am Horizont. Das belebt die Hoffnung. Mut ruf ich, Mut! Wir kommen an. Das ist das Feld, wo die Selbstbinder arbeiten. Da liegen die gebundenen Garben. Eben macht die letzte Maschine ihre letzte Wendung; eben steigt der Minister wieder in seinen Wagen und das Komitee der Landwirtschaftsgesellschaft von Frankreich, von der ich ein Ehrenmitglied bin, in die seinen, und der verfluchte Gendarm zieht wieder seinen Säbel und schreit mir zu: »Nach der Dampfmaschine! Sie sind auf dem richtigen Weg; folgen Sie den Wagen!« Und fort geht's über Stock und Stein, ich hinter der Staubwolke drein, drei Kilometer. Ich war nur gerade noch am Leben, um dieselbe Szene nochmals durchzukosten. Die Dampfmähmaschine hatte soeben ihre letzte Umdrehung gemacht; die Herren mit dem Herrn Minister selbst waren in ihre Wagen gestiegen; der Gendarm wollte eben wieder seinen Säbel ziehen. Aber ich war desperat. »Wo ist der Vertreter von Aveling?« schrie ich. »Ich kenne Dr. Sillen. Ich komme von Bordeaux. Er muß mir die Maschine laufen lassen!« Keine Antwort. Ich wankte weiter. Ich dachte nicht daran, den Vertreter der großen englischen Fabrik in den Straßengräben zu suchen. Aber da lag er. Ich stolperte über ihn, als ich das Feld verlassen wollte. Er war ohnmächtig, ohnmächtig aus Durst, aus was weiß ich? Ich war bereit, mich neben ihn zu legen. Dr. Sillen ist kein Herkules, ich auch nicht. Der Gendarm war etwas zurückgeblieben. Ich packte ihn trotz des Säbels. »Einen Wagen!« rief ich. »Schaffen Sie einen Wagen! Hier liegt ein Sterbender!« Aber kein Geld, keine Bitten konnten einen Wagen schaffen. Wir brachten Dr. Sillen nach dem nächsten Bauernhof, wo er wieder zu sich kam. Das ist alles, was ich von den Versuchen gesehen habe!«

»Nun, trösten Sie sich, lieber Freund!« sagte ich zu dem aufgeregten Mann, »nächsten Montag bei den Dampfkulturproben kann's Ihnen wenigstens nicht so schlecht gehen. Ich gebe Ihnen einen Brief an Mr. Decauville.«

»Was?!« schrie er, »ich stürze mich nochmals in ein solches Abenteuer?! Habe ich Ihnen noch nicht erzählt, wie ich den Abend zubrachte, ohnmächtig vor Hunger, und wie ich nach Paris zurückkam, in einem Viehwagen!? Nein, Monsieur! Jamais. Sie sagen mir, daß wir Franzosen die Sachen zu arrangieren wissen! Heute abend gehe ich nach Bordeaux zurück. Wenn Sie in die Gegend kommen, will ich Ihnen einen Dampfpflug zeigen, der geht, ohne Säbel, ohne Gendarmen. Mon Dieu, mon Dieu, welch ein Tag! Und ich bin eines ihrer Ehrenmitglieder! Adieu!« – Doch man muß Mr. du Plessy die Sache selbst erzählen hören. Es ist mehr als ein Drama, wie er rennt, ohne vom Stuhl aufzustehen, wie er keucht, wie er die Staubwolken in der Ferne aufwirbelt, wie er am Horizont Mähmaschinen laufen läßt, wie er den Gendarmen behandelt und den Dr. Sillen aus dem Graben zieht, wie er schließlich vor Hunger stirbt und dann urplötzlich nach Bordeaux abreist. Es hat mir endlich einmal ein Franzose herzlich gutgetan. Man muß nie an einem ganzen Volk verzweifeln.


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