Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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124.

Konstantinopel, den 10. Juli 1879.

Eine Weltausstellung bleibt doch nicht ohne Folgen. Es scheint, daß ich in Paris einen armenischen Agenten für die Dampfkultur begeistert habe und dieser einem reichen türkischen Bei ähnliche Gefühle einzuflößen wußte. Dies führte mich nach längerem Briefwechsel hierher. Und nun habe ich die Besitzungen meines neuen Freundes Nahid-Bei in Rumelien aufgesucht und besichtigt, die ihr eigner Herr seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen hatte, und kann, mit gemischten Empfindungen, meinen türkischen Feldzug als abgeschlossen betrachten.

Selbst die Pracht des Goldenen Horns versöhnt nicht ganz mit einer alten Schachtel aus Holz, der man sein Leben auf fünfzehn Stunden anvertrauen soll, und die, dem Aussehen nach, beim ersten Radschlag in Stücke gehen muß. »Siehe Neapel und stirb!« Siehe Stambul vom Deck des Rodostodampfers, wie er sich räuspert und wie er spuckt, eh' er zur qualvollen Erfüllung seiner Pflicht schreitet, und du kannst das nicht allzuweise Sprichwort auch hier nachfühlen. Ein alter griechischer Kapitän, dem, wie seinem Schiff, nicht mehr viel am Leben liegt, eine Deckladung aus Fässern und Ballen, türkischen Weibern, Land- und Seeräubern – ich spreche natürlich nur vom Aussehen –; eine Kajüte, in der sich unter Tischen und Bänken weiteres Räubervolk anschickt, auf Messern und Pistolen den Schlaf des Gerechten zu schlafen, zwei luftdicht schließende Wandschränkchen, jedes zwei elf Zoll breite Betten enthaltend, das bildete den Vordergrund. Im Mittelgrund das wimmelnde Hafenbild in tausend wirren, sonnvergoldeten Linien, die trotzigen Panzerschiffe des Sultans, die englischen Handelsdampfer von geschmeidigen Formen, dazwischen, in allen Richtungen pfeifend und dampfend, die emsigen Bosporusboote, überfüllt von einer bunten Menschenfracht, und, wie Wasserspinnen, Hunderte von Kaiks, diese elegantesten Ruderboote der Welt. Und endlich der Hintergrund: das Serail und die Moscheen von Stambul, glänzendweiß auf goldenem Grund, aus grünen Gärten aufsteigend, das stolze Häuserpanorama von Pera und Galata und drüben über der blauen Fläche das sonnige Skutari. Wäre das Bild mit der Feder zu malen, so kämen wir heute nicht mehr aus dem Hafen hinaus.

Wir haben uns indessen auf einem der Radkästen häuslich niedergelassen: der dicke, gutmütige Nahid-Bei, der schlaue, geschniegelte Armenier Arschaguni und ich. Stambul zieht in seiner ganzen Ausdehnung an uns vorüber: die Mauern und Kioske des Serails, St. Sophia, die Moschee von Sultan Achmed mit ihren sechs Minaretts, ein Häusermeer in grünen Gärten, die sieben Türme und die zerfallene Stadtmauer. Die See ist ein blauer Spiegel, über Kleinasien geht der volle Mond auf. Herz, was begehrst du mehr?

Nahid-Bei erzählt von Rom, wo er Gesandtschaftsattaché gewesen war und in einer Bibel Französisch gelernt hatte. Arschaguni baut sich und uns ein armenisches Kaiserreich auf. Er ist ein großer Politikus. Wir beiden Christen sehen nicht ein, wie es so weitergehen könne, und der Türke, der damit ganz einverstanden ist; sagt, freundlich den Mond anblickend: Nous mourirons! Gegen ein Uhr entschloß ich mich, meinen Wandschrank aufzusuchen. Ich fiel dabei über ein Schaf und trat einem Räuberhauptmann unsanft auf den Kopf. Daß ich im Verlauf der Nacht nicht erstickte, ist unerklärlich. Meine zwei Reisegefährten schliefen auf dem Radkasten, wo ich sie am andern Morgen gesund und frisch und emsig Wanzen sammelnd wiederfand.

Rodosto lag vor uns. Ein größeres Städtchen mit einem jämmerlichen Landungsplatz und ein paar einfachen Minaretts, die dunkeln Häuser in Gärten begraben, still und sonnig. Nahid-Bei hatte hier einen Freund, den ersten Sekretär des Gouverneurs, den wir sogleich aufsuchten. Ein schlichtes Haus, ein schlichteres Empfangszimmer, ein schlichtester Türke von der mageren, aszetischen Abart. Die ruhige Höflichkeit dieser Leute, die ungesuchte Gastlichkeit hat etwas ungemein Anziehendes, überhaupt ist es schwer, im näheren Verkehr mit diesem Volk, das mit einer wahrhaft rührenden Ergebung seinem Ende entgegenzusehen scheint, den Zug wilder Grausamkeit zu finden, den ihm jeder gute Christ zuschreiben muß. Wie sie denselben zu verstecken wissen, ist vielleicht ein Beweis ihrer diabolischen Schlauheit.

Trotz der tätigen Hilfe dieses Herrn dauerten die Verhandlungen in betreff von Pferden sechs Stunden lang. Selbst die türkischen Bauern sind geborene Diplomaten. Von fünf Lire, die zuerst verlangt wurden, sank der Preis für ein Pferd im Lauf der Zeit auf einen halben Lira. Mittlerweile skizzierte ich den Sohn unsers Wirts in der Tracht der türkischen Miliz und saß in einem Gurkengarten, einem Brunnen zuhörend. Um drei Uhr endlich waren wir bereit, aufzubrechen: sechs bewaffnete Kawassen, ein Wagen ohne Sitz und Federn, zwei weitere Pferde und ein Esel. Den Ehrenplatz auf dem Boden eines kleinen Bretterkastens über vier Rädern mit Anstand zu behaupten, ging über meine Kräfte. Nach einer halben Stunde bot mir Sirri-Efendi, der uns begleitende Sekretär des Gouverneurs, sein Pferd an und nahm mit allen Zeichen höflicher Entschuldigung meinen Sitz in dem Marterkasten ein. Jetzt war mir wieder wohl. Nach einer Stunde verließ auch Nahid-Bei unsern Staatswagen und bestieg einen Esel, als Beweis, wie sehr auch ihn die europäische Zivilisation bereits beleckt hatte. Die Gegend ist bergig und bietet manche wohltuende Fernsicht. Hinter uns das Meer und die gebirgige Insel Marmara. Vor uns die blauen Ausläufer der Rhodopeberge. In nächster Nähe sind die Höhen meist kahl. Der üppige, früher sichtlich bebaute Boden ist meilenweit mit dürrem Unkraut bedeckt. Stundenlang ist kaum ein Lebenszeichen zu entdecken. Später wird grünes Buschwerk in den Niederungen häufiger, und waldbedeckte Berge erscheinen vor uns. Aber bis nach Osmanli, Sirri-Efendis Gut und unser heutiges Ziel, das wir gegen sechs Uhr erreichten, hatten wir nur zwei oder drei türkische Pachtgüter berührt. Alles übrige, von der Natur zu einem Garten bestimmt, war wüst und leer.

Osmanli liegt in einer weiten, welligen Ebene, die in der Glut der Sonne zu verschmachten scheint. Doch ist sie da und dort von kleinen Tälchen durchzogen, welche die winterlichen Wasserläufe andeuten und mit üppig grünem Buschwerk gefüllt sind. Gelegentlich zeigen sich wohl auch kleine schwarze Flächen frisch gepflügten Bodens. In der Mitte dieses Bildes liegt eine Gruppe halb zerstörter Häuser, ein paar Schuppen und eine Dreschtenne. Es ist das gemeinsame Werk von Türken und Russen: der jüngste Versuch, an die Stelle der halben Barbarei eine halbe Zivilisation zu pflanzen. Die Barbarei ist nahezu zerstört, aber von der Zivilisation ist auch nicht eine Spur zu entdecken.

Man lernt sich zu schicken. Der Abend bei einer Quelle hinter dem Hof, das türkische Nachtessen, das in einem Stall nicht ohne Zauberei entstanden sein konnte, unsre Schlafstellen auf dem Boden der noch besterhaltenen Stube des früheren stattlichen Wohnhauses, dem aber seit dem Krieg die Fenster und die Hälfte des Daches fehlten – das alles war so übel nicht, als es unter einem andern Himmel gewesen wäre.

Am folgenden Morgen wurde für mich ein Probepflügen veranstaltet. Zwölf Ochsen hingen an einem hölzernen Pflug. Auch wird zurzeit gedroschen, und zwar mit einem Gerät, das selbst die ägyptische Dreschmaschine an vorsintflutlicher Einfachheit übertrifft. Das Getreide wird auf dem Boden ausgebreitet, und zwei Pferde schleppen ein dickes Brett, dessen untere Seite mit in das Holz eingelassenen Feuersteinen besetzt ist, schlittenartig über die Masse. Auf dem Brett steht oder sitzt der Pferdelenker und treibt sein Gespann im Kreis und in Kreuz und Quer acht Stunden lang über das allmählich zerquetschte Stroh, das sodann in die Luft geworfen und so durch den Wind vom Korn getrennt wird. Hat der Junge nette Pferde, einen halb aufgelösten Turban, ein rotes Jäckchen und Vergnügen an seinem Geschäft, so ist das Ding fast so hübsch wie eine Zirkusaufführung. Aber gedroschen wird nicht viel.

Um Mittag brachen wir wieder auf. Der türkische Marterkasten, Sirri-Efendi und seine Söhne blieben zurück. Unsre Gesellschaft bestand jetzt nur noch aus sechs Pferden, und unser Ziel war Sassan, Nahid-Beis Gut. Die Entfernung sollte fünf bis sechs Stunden sein, war aber zehn. Eine prächtige Gegend, hügeliges Land, Wald und Busch und Wasser in Menge, aber Wege, kaum des Erwähnens wert, da und dort ein halbzerfallenes türkisches Hofgut, Spuren eines niedergebrannten Dorfes, drei oder vier bewohnte Flecken, von denen einer mit christlicher Bevölkerung unleugbar vorteilhafter aussah als die andern.

Weder Nahid-Bei noch unsre Soldaten waren des Weges sicher, den wir denn auch gründlich verloren. Bei dieser Gelegenheit muß ich erwähnen, daß ich selbst am Morgen ein Messer und einen Schirm zurückgelassen und Arschaguni abends Reisesack und Plaid verloren hatte. Baedekers schlechter Rat, mit wenig Gepäck zu reisen, ist hiernach in der Türkei unnötig. Es vermindert sich von selbst auf das wünschenswerte Minimum. Dagegen fing ich gegen Abend eine prächtige Landschildkröte, die eine Woche lang mein treuer Reisegefährte blieb. Leider mußte ich mich gestern von ihr trennen, denn sie wollte sich in keiner Weise den Gewohnheiten eines zivilisierten Gasthoflebens anbequemen. Es ist schade um das Tier, dessen philosophische Ruhe und trockener Humor jedermann viele Freude gemacht hätte.

Als wir nach einem glühenden Tag in tiefer Nacht Sassan erreichten, war nicht mehr viel Leben in uns. Und welche Aussicht unter dem halbzerfallenen Hoftor! Ein paar Dutzend schwarze Büffel bedeckten den unebenen Boden; auf drei Seiten lagen vollständig zerstörte, dachlose Gebäude. Die vierte nahm ein langer, offener Schuppen ein, unter dem, von den Büffeln fast nicht zu unterscheiden, in ihre Mäntel eingewickelt, ungefähr ebensoviele Arbeiter schliefen. Am Ende des Schuppens stand noch ein kleines Lehmhäuschen, in dem ein Licht brannte, und aus dessen niederer Türe eine heiße, dicke Luft in die kühlere Nacht hinausströmte.

Wir stiegen ab und lagerten uns zunächst außerhalb des Hofs auf einer Felsplatte zwischen den geschwärzten Trümmern des kleinen, vollständig zerstörten Dorfes. Die Russen schienen hier mit ungewohnter Gründlichkeit gehaust zu haben. Aber selbst saure Milch, Brot und zwei Riesengurken, alles, was das Gut bieten konnte, war nach einem solchen Ritt ein Labsal. Mittlerweile wurde das Haus ausgekehrt und frisches Stroh oder vielmehr Getreide aufgeschüttet. Nach Mitternacht konnten wir die Höhle beziehen. Eine Backofenluft mit einem schaudrigkalten Zug durch das Loch, welches die Stelle eines Fensters vertrat, das Stroh mit seinen Ähren und Bärten, voll von vegetabilischen Teufeleien in der Form von Stacheln, Kletten und Nesseln, zwei Dutzend Moskitos und Flöhe ad libitum – das waren die Elemente, aus denen wir unsre Nachtruhe aufzubauen hatten.

Der folgende Tag war einer der heißesten, die ich je erlebt habe. Natürlich ein Zufall; denn an sich ist das Land nicht unerträglich heiß. Nach einem langen und gründlichen Ritt über das Gut, das vorderhand nichts bietet als den prächtigsten Boden der Welt, wurde beschlossen, nicht eine zweite Nacht in unserm Hundestall durchzuleiden. So machten wir uns um zehn Uhr nachts auf den Rückweg und erreichten am andern Morgen um zehn eine Station Muratle an der Bahn von Adrianopel. Eine Stunde später ging der einzige Zug des Tags nach Konstantinopel, wo wir abends acht Uhr ankamen.

Zum großen Ärger Arschagunis riet ich Nahid-Bei, sein Geld lieber in das Marmarameer zu werfen, als einen Dampfpflug nach Sassan zu schicken. Ich habe selten einen dankbareren Menschen gesehen als meinen türkischen Freund, der mit strahlendem Lächeln versprach, mir am folgenden Morgen meine Reiseauslagen von London nach Konstantinopel und zurück zu schicken. Er tat dies mit türkischer Gewissenhaftigkeit. Nur stahl Arschaguni die Hälfte der Summe, ehe er mir schmunzelnd den Rest aushändigte.


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