Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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116.

Paris, den 17. Juni 1878.

Pfingsten hat halb England herübergebracht. Die Stadt ist zum Überfluten voll. Meine eigne Wohnung ist dreifach belegt von englischen Freunden. Gleichzeitig beginnen auch alle übrigen Teile der Welt Bekannte auszuspeien, gute Freunde aus Schwaben, aus Bayern und Preußen, Nubar-Pascha von Ägypten, mein ehemaliger Herr und Gebieter Halim-Pascha aus Stambul, the »Honorable« Mr. Russel von Demarara, Leute von Kuba, Kalifornien und Peru, die Direktoren des Erzherzogs Albrecht von Ungarn, Graf Branizky aus der Ukraine und Butler Johnstons Nachfolger aus Timaschwo.

Dabei verwandelt sich meine Bude mehr und mehr in einen Brutofen nach altägyptischem Muster, in dem ich über die Frage nachsinne, ob es sich lohnt, Ausstellungsbriefe zu schreiben. Der Geist ist willig, aber die Aufgabe ist riesengroß. Von allen Seiten streckt sie mir ihre Polypenarme entgegen, unentwirrbar, ohne Anfang und ohne Ende. Was soll draus werden, wenn man ihr nicht auf ein Jahr oder länger Leib und Seele opfern kann? Und kann man's und tut man's, was ist schließlich das Ergebnis? Eine Häufung von tausend und abertausend Einzelheiten, zusammengewürfelt, wie sie nur der arme Menschengeist zusammenwürfeln kann, wenn er babylonische Türme baut. Die Natur in ihren tollsten Launen hat mehr Vernunft und Ordnungssinn.

Selbst die verschiedenen Richtergruppen, welche doch die Weisheit unsrer Welt vorstellen, quälen sich seit Wochen, die Sachen auseinanderzuklauben. Ich hatte bereits mit fünf verschiedenen Abteilungen dieser Herren zu tun. Ans Beurteilen, was eigentlich ihr Geschäft wäre, sind sie noch nicht gekommen. Das bloße Einteilen verwirrt sie und die Aussteller schon so gründlich, daß man über die tollsten Streiche des Dämons, der diese wichtigen Arbeiten leitet, nicht mehr lachen kann. Vor etlichen Wochen glaubte man gefunden zu haben, daß meine Dampfpflüge der Klasse 72, »Farmgebäude und dergleichen«, angehören. Es soll mich nicht wundern, wenn ich mich schließlich unter die »schädlichen Insekten« oder »musikalischen Instrumente« eingereiht finde.

Dies ist erklärlich genug. Zusammenschleppen und mit Ach und Krach nebeneinanderstellen und aufeinandertürmen kann man zuletzt mit unsern Eisenbahnen, Dampfschiffen, Kranen und Hebeln die halbe Welt. Unsre Arme und Beine sind gewachsen, daß Siebenmeilenstiefel eine Kinderei dagegen sind. Aber unser Geist ist ungefähr geblieben, was er war. Und da stehen wir nun halb blödsinnig vor Selbstbewunderung und wissen kaum, was wir über unser Tun und Treiben denken sollen. Etwas darüber zu sagen oder zu schreiben, finden die meisten leichter. Denn auch dies ist zum Glück schon seit einiger Zeit eine Art Maschinenarbeit geworden, die nicht gerade viel Verstand erfordert, wenn man jeden Versuch aufgibt, das Ganze zu überblicken. Kein Wunder, daß die Maschinen, welche dies alles geschaffen haben, wohl mehr als die Hälfte des Ausstellungsraums bedecken und einen gewaltigen eisernen Gürtel um den ganzen Palast ziehen; kein Wunder, daß ihnen das noch immer nicht genug ist, daß in den Gärten draußen nach allen Richtungen, zwischen Rosen und Palmen, in Winkelchen, denen man ganz andres zutraut, auf den weiten statuengeschmückten Flächen, auf der der Kunst geweihten Trocaderoseite und sogar pfahlbautenartig in die Seine hinein Pavillons aufgeschossen sind, und Schuppen und Hütten und Lauben in allen Stilen und aus allen Materialien, die gefüllt sind mit Schrauben und Nägeln, Stangen und Wellen, Zangen, Zacken und Gabeln, wie wir sie zu unserm modernen Glück und unsrer Größe bedürfen. Habt Ihr etwa Lust zu einem Gang durch diesen Gürtel? Ich mache ihn gelegentlich mit einem neuangekommenen Bekannten, wenn er mir besonders empfohlen ist. Er kostet gewöhnlich den vollen Tag, und der Bekannte lehnt abends alle weiteren Lebensfreuden ab, die Paris bietet. Ja, ich muß mich noch glücklich schätzen, wenn er mir nicht auf dem ersten besten Stuhl einschläft, den wir zum Zweck vorübergehenden Biergenusses erobern. So weit möchte ich Euch doch nicht treiben. Besser, wir überlassen die Aufgabe meinen Fachgenossen, von denen ich Dutzende unter ihr erliegen sah.

Morgen ist das Riesennationaljubelfest. Alles jubiliert bereits, steckt Flaggen auf, legt festliche Gasröhren in die Straßengräben und hängt chinesische Laternen an die Bäume. Wir schwitzen vor Jubel seit einer Woche und üben unsern Festchor: »Friede, Friede!« Wenn man nicht wüßte, wie das alles wieder verduftet, man könnte wahrhaftig glauben, daß wir dem tausendjährigen Reich durch das Ausstellen geeigneter Maschinen beträchtlich näher gerückt seien. Aber dann kommt wieder ein Windstoß und das ganze Kartenhaus der Weltbrüderlichkeit fällt zusammen. Wird es je anders werden? Ist es für vernünftige Menschen nicht unvernünftig, das Unwahrscheinlichste zu hoffen? Und doch, wohin versänken wir ohne dieses fortwährende unverwüstliche Wünschen und Hoffen? Viktor Hugos neueste Reden und Schriften auf diesem Gebiet sind wirklich ihr Studium wert. Welches Gemisch von Unsinn und Adel, von Prophetengeist und Narrheit, von der lächerlichsten Lokaleitelkeit und der erhabensten Millionen umschlingenden Liebe für die ganze Menschheit! –

Werden wir Deutschen je einen Franzosen verstehen? Und ähnlich geht es mir, dem Urgermanen, in der »Apotheose der Industrie«, die mich umgibt.


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