Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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108.

An Bord der »Ayactecho« bei Panama, Mitte November 1877.

Mein Aufenthalt in Peru ist zu Ende. Er war voll Interesse und voll warmer Arbeit, der Arbeit des Säemanns, wie sie mir so oft zufällt. Jeder meiner Tage war in dieser Weise völlig in Anspruch genommen, mit Ausnahme von dreien. Aus diesen dreien machte ich einen Feier- und Festtag, der mich dem Himmel näher brachte, als ich es je gewesen bin. Fünftausend Meter über der Meeresfläche, die man den Tag zuvor noch mit dem Fuß berührte, ist ein stolzer Gedanke. Aber er bringt auch seine Beschwerden; so daß ein einmaliger Genuß dieses berauschenden Gefühls selbst mich mehr als befriedigte.

Dazu kam eine Fahrt auf der merkwürdigsten Eisenbahn, welche die Welt bis jetzt kennt. Der ihr zugrunde liegende Gedanke ist so unfaßlich für unsre vorsichtigen europäischen Begriffe als die Art der Ausführung. Die finanziellen Winkelzüge, die erforderlich waren, sind so toll als beides; die Leute, welche an der Spitze des Unternehmens stehen, bei uns so unmöglich als all das zusammen. Was mit dieser Orojabahn zusammenhängt, ist ein phantastisches Märchen der Gegenwart, in Felsen und Eisen gedichtet von Henry Meiggs, Yankee. Die stoffliche Grundlage der Dichtung war Papier; aber kein gewöhnliches Schreibpapier. Die Bahn führt von Lima ins Blaue. Ein nebelhafter Plan lag der Sache zugrunde. Sie sollte schließlich die Küste des Stillen Ozeans und damit das zivilisierte Peru mit dem Stromnetz des Amazonenbeckens verbinden und ihre Endstation da finden, wo die brasilianischen Flußdampfer durch Stromschnellen oder Sumpfpflanzen am weiteren Vordringen verhindert sind. Sie sollte ferner beim Übergang über das große Tafelland zwischen den zwei Kordillerenketten, welche den Osten vom Westen trennen, einen Kreuzungspunkt erreichen, von welchem aus, auf einer Höhe von dreitausend Metern, Zweigbahnen nach Nord und Süd das Land durchschnitten hatten. Sie sollte endlich mittels einer dieser Zweigbahnen die Gebirgsstadt Cerro de Pasco erreichen, deren fabelhafte Silberminen seit einem Jahrhundert brach liegen und es bleiben müssen, bis es möglich sein wird, Maschinen in diese unwirtlichen Höhen zu bringen, um die alten indianischen und spanischen Schächte wieder zugänglich zu machen. Das war der Plan. Meiggs ist einer der merkwürdigen Menschen à la Strousberg, welche, wie Wallenstein und Tilly, aber nach Art unsrer Zeit, die Welt in Bewegung setzen und Gutes und Böses, Schwindel und ehrliche Arbeit untereinandermischen, so daß kleinere Menschen nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht. Meiggs war entschlossen, die Bahn zu bauen. Die Regierung sollte für jede fertige Meile, welche sie übernimmt, eine gewisse Summe bezahlen. Damit wurde in Lima angefangen und das Rimactal hinauf, dem nächsten Paß der Kordilleren zu, gebaut. Zwanzig Millionen Dollar wurden in dieser Art verbaut (so sagte mir einer der leitenden Ingenieure), ehe man auch nur wußte, ob das Riesenunternehmen in den höchsten Gebirgsteilen möglich sei. Das heißt, nicht ganz verbaut. Ein Drittel der Summe war erforderlich, um die nötigen Regierungsverträge einzuleiten, zu deutsch, um die hohen Finanzbeamten, vom Präsidenten abwärts, zu schmieren. Dies wurde eine Hauptaufgabe, als das Geld auszugehen drohte und Regierung und Meiggs nur noch ein Mittel sahen, weiter zu kommen. Anstatt Meiggs zu bezahlen, erhielt er das Recht, für sich selber Papiergeld zu machen. Das geschah millionenweise. Der Wert dieses Geldes sank natürlich rasch ins Bodenlose. Nun sollte die Regierung für das Meiggssche Papiergeld aufkommen. Auch hierzu ließ sie sich bewegen. Heute jedoch ist das Unternehmen samt der Regierung am Bankrott angelangt. Die fertige Bahn endet vorläufig dreiundzwanzig englische Meilen unterhalb des ersten Höhenpasses. Alles sieht sehnsüchtig nach den fernen Silberbergen von Cerro de Pasco. Dort liegt die einzige Rettung des riesigen Unternehmens – des großartigen Schwindels, wenn Cerro de Pasco nicht erreicht wird. Und mitten in dieser Krisis liegt vor drei Wochen der alte Meiggs hin und stirbt!

Ich hatte die Bekanntschaft eines peruanischen Schafzüchters gemacht, der auf dem entgegengesetzten Abhang der Kordilleren etliche 20 000 Hektar Landes besitzt. Eine lustige Haut und ein peruanisches Gemisch von Pariser Zivilisation und wilder, revolverführender Schafshirtennatur. Er war im Begriff, seine Herden zu besuchen, und lud mich ein, ihn zu begleiten. So weit reichte nun meine Zeit nicht. Doch versprach ich mir einen Tag wirklicher Gebirgsreiterei und einen Blick in die Welt auf der entgegengesetzten Seite der Kordilleren und habe beides genossen. Lima hat fünf Bahnhöfe. Der der Orojabahn ist zwischen den Fluß und die alte Stadtmauer eingezwängt und bietet außer seiner landschaftlich prächtigen Lage nichts zu loben. Besaglos, meines Hirtenkönigs Gepäck, bestehend aus Sätteln, Teekannen, Flaschen und Mundvorrat, Gewehren und einer großen Spieldose, wurde mit einiger Mühe untergebracht, und der kleine Zug, aus einer schweren amerikanischen Lokomotive und vier Wagen zusammengestellt, setzte sich in Bewegung, am Fluß hinauf.

Zuerst ging's durch ein blühendes Tal von tropischer Fruchtbarkeit, sobald die Stadt und ihre Vorwerke, das heißt ein hübsch ausgestatteter Kirchhof und eine schlecht betriebene Pulverfabrik, hinter uns lagen. Das Flußbett des Rimac ist hier breit und steinig, mit Buschwerk und Geröll bedeckt; die Talsohle selbst schmückt goldgrünes Zuckerrohr, das der nächsten großen Zuckerfabrik, Santa Clara gehört. Als Rahmen des Bildes dienen die stattlichen Vorberge der Kordilleren, die kahl und felsig, nur da und dort mit einem Hauch von Grün bedeckt, aus dem Tal aufsteigen. Bald verschwindet jedoch das Zuckerrohr. Gestrüpp nimmt überhand; ärmliche, steinige Baumwollenfelder wechseln mit Klee und noch öfter mit einer struppigen Wildnis, welche vom Flußbett kaum zu unterscheiden ist. In Chosica, nach sechsundzwanzig englischen Meilen, sind wir bereits um siebenhundert Meter gestiegen, ohne es beachtet zu haben; denn wir folgen immer noch der Talsohle, die sich der Fluß geebnet hat.

Das Tal wird jetzt enger, und die Berge gewaltiger. Links öffnet sich ein mächtiges Seitental, aus dessen tiefstem Grunde hoch oben, aber freilich noch weit, weit entfernt, Schnee herabwinkt. Am Eingang des Tals liegt ein altes, verlassenes Städtchen mit wohlerhaltenen dachlosen Häusern. Dies ist ein charakteristischer Zug im ganzen Tal und durch ganz Peru; es sind die Spuren einer verschwundenen Bevölkerung. Entlang der Eisenbahn läuft die alte Inkastraße. Verlassene Kanäle und Bewässerungsanlagen zeigen sich überall an den felsigen Berghängen. Die steilen Flanken der Hügel sind mit Tausenden von Terrassen, ähnlich unsern Weinbergsmauern, nur verhundertfältigt in Zahl und Ausdehnung, bedeckt und bilden einen wunderlichen Gegensatz zu der ausgestorbenen Natur, der einsamen, menschenleeren Gegend. Heute ist, selbst in der Talsohle, nur da und dort noch ein ärmlicher Hof zu entdecken, um den ein paar Dutzend Kühe auf den steinbesäten Kleefeldern weiden. Vor etlichen Jahrhunderten mußten sich Tausende von fleißigen Händen geregt haben, um auf den jetzt verödeten Bergen die Spuren zu hinterlassen, die bei jeder Taleswendung aufs neue hervortreten. Spanische Wirtschaft! Manchmal wird man doch an der Gerechtigkeit der Weltgeschichte etwas irr.

Nach den ersten zwei Flußübergängen, zu denen die Berge auf der rechten Seite die Bahn zwingen, und nach einer kleinen Station, die ein paar Kühen zulieb angelegt scheint, kommt ein größerer Bahnhof und das Dorf San Bartolome. Jetzt wird die Sache ernst. Die Maschine wird umgespannt, und wir fahren rückwärts, die erste Zickzackbahn hinauf, deren Anlage durch ein Seitental wesentlich erleichtert ist. Vorbei an einem wildromantischen Bergdörfchen, schon mit Giebeldächern versehen, aber noch in Bananen und Reben gebettet, und von feierlichen Riesenkaktussen bewacht. Wir steigen mit erstaunlicher Geschwindigkeit und winden uns schlangenartig um Felsen und Geröll. Nach wenigen Minuten sehen wir unmittelbar unter unsern Füßen zwei Eisenbahnlinien, eine tief unter der andern; es ist der Weg, auf dem wir heraufgekommen sind. Jetzt erst geht es wieder vorwärts, etliche hundert Fuß über der Talsohle, am Bergabhang entlang. Rechts können wir die Felswand mit der Hand berühren; links sehen wir hinunter auf San Bartolome und sein Kirchlein und hinüber auf die kahlen felsigen Berge, die, seit die Indianer tot sind, nie ein Mensch betrat. Dann kommen die ersten zwei Tunnels, ohne die Landschaft im geringsten zu ändern, einfache Löcher durch vorspringende Felsgrate des Berghanges, an dem wir hingleiten, und gleich darauf der Übergang über ein Seitental, vielleicht die höchste Brücke der Welt, der Viadukt über die Agua de Verugas, eines der eisernen Märchen, wie wir sie in unsrer Zeit dichten. Ein schmiedeisernes Spinngewebe zwischen zwei Felsabhängen, auf langen, zarten, dünnen Beinen. Ein paar schwarze, gespenstische Linien auf dem blendendgelben Felsgrund. Vom Wagen aus eine schwindelnde Höhe, durch die man zu fliegen scheint; denn man sieht von der Brücke selbst beinahe nichts. Gleich darauf verschlingen uns nacheinander wieder zwei Tunnels, und dann erst öffnet sich ein freier, ruhiger Blick in das gewaltige Tal unter uns, in dem wir dem schäumenden Rimac allmählich wieder näher zu kommen scheinen. Bei der folgenden Station Surco sind wir, trotz alles Kletterns, wieder auf der Talsohle angelangt, denn der Bergstrom steigt schneller als die keuchende Lokomotive. Das Tal ist hier kaum breit genug für den Fluß, die Bahn und die Station, doch noch immer da und dort ärmlich bebaut. Auch haben wir hier bereits die höchsten Höhen unsers Schwarzwaldes um nahezu das Doppelte überschritten und sind trotzdem noch immer erst am Anfang unsrer Dampfbergbesteigung. Zweimal geht es jetzt über den Fluß, um Raum für einen Bogen zu gewinnen, dann rückwärts die Berghalde hinan. Hier erscheinen drei Tunnels übereinander, wie die Öffnungen eines Taubenschlags, hoch oben in der Luft. Wir passieren den ersten. Dann folgt wieder eine Schlangenlinie, für die ein kleiner Bergvorsprung gerade Platz läßt, und dann, durch denselben Felsgrat, den wir soeben durchbrochen haben, nochmals hindurch in zwei weitere Tunnels. Jetzt sind wir wieder hoch über der Talsohle und fahren an den Brücken vorbei, über die wir vor kurzem geflogen sind. Hier wird das Tal breiter, und der mächtige Berghang, an den wir uns klammern, etwas ruhiger. Auch scheinen unten Viehzucht und etwas Ackerbau zuzunehmen.

So erreichen wir Mantucana, ein ansehnliches Städtchen mit wunderlicher Kirche, dessen Bauart an die Gebirgsdörfer in Piemont erinnert. Hier stärken wir uns und den Lokomotivführer, mit dem ich mich als Berufsgenosse befreundet hatte, mit einem »drink« für die kommenden Anstrengungen. Denn die drohenden Berge türmen sich vor uns immer höher, je höher wir steigen, immer dunkler, je mehr Licht wir erwarten. Es folgt ein Bergsturz, durch dessen blauroten Schutt der Rimac einen tiefen Kanal gerissen hat und hinter dem er trotzdem noch einen trüben stillen Bergsee bildet!! Weiter! Wir haben keine Zeit für stille Bergseen.

Unsre Seite des Tales wird jetzt unruhiger. Mächtige Felsgrate schießen von oben in das Tal hinunter, jeder eine Barrikade in unserm Weg, und jeder natürlich einen Tunnel fordernd, der den prächtigsten Rahmen für das gegenüberliegende Landschaftsbild fertigt. Dort drüben öffnet sich wieder ein gewaltiges Seitental, das uns ahnen läßt, was noch bevorsteht. Nach weiteren sechs Tunnels sind wir wieder auf die Talsohle gesunken und überschreiten den Fluß, der mehr und mehr den Charakter eines verwilderten Gebirgswassers annimmt. An einem verhältnismäßig ruhigen Berghang geht es in doppeltem Zickzack in die Höhe. Hier ist kein Raum mehr für regelrechte Schlangenlinien. Am Ende jeder Spitze des Zickzacks wird die Maschine umgespannt, um die Wagen rückwärts weiterzuschieben. Oben angelangt, geht es wieder geradlinig weiter, an der Seite des Berges entlang, während wir, durch fünf Tunnels, abermals an den Fluß heruntersinken. Jetzt wieder über den Fluß. Drei Tunnels. In ein Seitental, im Zickzack hinauf, der tollste Teil der ganzen Linie. Dann an den Berghängen hin durch zwei Tunnels nach San Mateo. Hier sind wir hoch über der Talsohle, das Städtchen tief unter uns. Diese Aufzählung ermüdet. Nicht so die Wirklichkeit, wo das Ganze ein steigendes Crescendo des erstaunlichsten Werkes der Menschen in dem wildesten Gewirr der Natur ist, wo die schwarzblauen Berge aus den Wolken herunterzuhängen scheinen (es wurde trüb gegen Abend), und das Flüßchen sich in den Eingeweiden der Erde versteckt, wo die Lokomotive wie ein Saumtier an den Bergkanten hinschleicht und beim Fahren über gefährliche Stellen Stein und Geröll in die Tiefe wirft, wo gelegentlich der Zug in die blaue Luft hinauszufahren scheint und nur durch eine plötzliche unerwartete Wendung sich wieder an die Bergwand schmiegt, an der man kopfschüttelnd die Zickzacke zählt, die man hinter sich hat.

Kurz nach San Mateo kommt der schauderhafte Glanzpunkt des Tages: das Infernillo. Hier schießt der Zug aus einem gekrümmten Tunnel und aus einer völlig senkrechten Felswand heraus über eine hängende Brücke, unter welcher der tosende Rimac sich krümmt, und sofort hinein in den nächsten Tunnel, der sich in der entgegengesetzten Felswand öffnet. Zwischen der Brücke und den Felsentoren des Tunnels ist auch nicht ein Fußbreit Land, auf dem ein Mensch stehen könnte. Beim Beginn der Arbeit mußten die Leute an Seilen Hunderte von Fuß von oben herabgelassen werden, um sich in die glatten Felswände eine Nische einzuhauen. Die Brücke selbst hat keine Pfeiler; sie ist eines jener schmiedeisernen Spinngewebe, die mir zum erstenmal gezeigt haben, welche phantastische Schönheit in geraden Linien liegen kann. Rechts und links stößt der Blick, dem nur ein kurzer Augenblick gegönnt ist, um den ganzen Schrecken der Szene zu verschlingen, auf ähnliche himmelhohe Berghänge. Man könnte das ganze Bild für einen Riesenfelskessel ohne Ein- und Ausgang halten, brauste nicht der Rimac unten, der doch irgendwo herein- und hinauskommen mußte. Das heißen sie hier das »Höllchen«, und nichts hat je seinen Namen besser verdient.

Noch ein Tunnel und noch einmal eine Zickzacktreppe, an deren Enden kaum Platz genug scheint, um die Maschine vom vorderen nach dem hinteren Ende des Zugs zu bringen, übrigens weiß man schon längst nicht mehr, was vorderes oder hinteres Ende des Zuges ist. Oben angelangt, mit dem schäumenden Schlund unter unsern Füßen, aus dem wir eben heraufgekommen und in dem der Fluß sich buchstäblich selbst durch Tunnels eigner Mache weiterwühlt, um sich aus diesem Gekröse der Unterwelt zu retten, schießen wir in den letzten Tunnel, über die letzte Brücke und sind in Anchi, der heutigen Endstation der Bahn. Elftausenddreihundert Fuß über dem Meer, zehntausendachthundertzweiundfünfzig Fuß über dem Punkt, den wir heute morgen vor acht Stunden verließen. Kein Wunder, daß man zunächst nach Luft schnappt. Und dann nach dem versprochenen Gasthof. Doch genug! Die Wogen des Stillen Ozeans rauschen mir seit elf Tagen in den Ohren, statt der tosenden Wasser von Anchi. Es heißt, wir seien noch sechs Stunden von Panama. Es ist Zeit, für die Landung zu sorgen.


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