Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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100.

Timaschwo, den 17. September 1876.

Die fünftägige Reise hierher diente mir als eine angenehme Ruhe- und Mußezeit, in der ich mich geistig und körperlich von den Anstrengungen des Petersburger Feldzugs erholte. Es hat eben alles in der Welt seine Verhältniswerte: groß und klein, hell und dunkel, leicht und schwer, Arbeit und Ruhe. Für andre Leute und auch für mich zu andern Zeiten wäre dieselbe Reise eine erschöpfende Anstrengung gewesen. Heute fühl' ich mich förmlich erfrischt und nach neuen Taten dürstend.

Daß ich unter nagenden Geschäftssorgen aufs gedeihlichste fortvegetiere, ist eine Tatsache, über die ich nicht den geringsten Zweifel mehr habe. Das einzige, was mich geistig und körperlich herunterstimmt, sind Feier- und Ferienzeiten. Und so wird es vermutlich fortgehen. Sollt' ich mich deshalb um Petersburg mehr grämen, als wenn ich zu Leeds im Kohlenstaub langsam erstickte oder auf dem Katheder einer polytechnischen Schule Hämorrhoiden pflegte? Den Leiden des Menschenlebens entwischen wir nicht. Aber unsre künftigen Sorgen wie unsre Freuden setzen wir gewöhnlich an den falschen Fleck. Wäre es deshalb nicht viel besser, wir ließen in Gottes Namen das Sorgen sein und gingen unsre Wege wie andres Treibholz auch; wenn wir nur schließlich im rechten Hafen anlangen. Dafür aber sorgt der Strom, in dem wir schwimmen, besser als wir selbst.

Mein Weg von Petersburg nach Samara führte mich wieder über Nishnij Nowgorod. Es war mir um so lieber, als ich das letztemal vor Beginn des großen Jahrmarktes durchkam, während ich diesmal wenigstens vor dem Schluß desselben eintraf. Mit einer Beschreibung der Stadt wollen wir uns nicht aufhalten. Dagegen lohnt es sich, von ihrem Kreml herab einen Blick auf das prächtige Bild zu werfen, das sich zu unsern Füßen ausbreitet.

Zunächst Sonne und blauer Himmel, soviel das Herz bedarf. Dann ein meerartiger Horizont, dessen dunkleres Blau eine weite Fläche begrenzt, die nach allen Seiten hin mit gelben Feldern, grünen Wäldern und sanften Tälern durchzogen ist. Zwei mächtige Ströme durchfluten diese Ebene, die Wolga und die Oka, und vereinigen ihre breiten Silberfluten unmittelbar unter uns. Die Landzunge, die sie bilden, ist von den Jahrmarktbauten bedeckt, aus denen einige russisch-griechische Kirchen und eine Tatarenmoschee hervorragen. Die Kaufleute haben sich nicht, wie sonst in der Welt, in Zelten und Buden festgesetzt, was dem deutschen Jahrmarkt sein zigeunerhaftes Aussehen verleiht, sondern hausen in langgestreckten, basarähnlichen Gebäuden, welche von der Regierung hergestellt und vermietet werden. Dies macht, daß der Jahrmarkt, aus der Ferne gesehen, wie eine wimmelnde, in dichten Staub gehüllte Stadt erscheint.

Eigentümlicher noch ist das Flußbild, das diese Halbinsel umzieht. Viele Hunderte von Booten aller Art, deren Bau ihre Herkunft vom Fuß des Urals oder vom Kaspischen Meer verrät, liegen dicht gedrängt auf der glänzenden Fläche. Mehr als hundert Dampfschiffe bezeugen, daß auch der fernere Westen sich mit gewohnter Gewaltsamkeit der mächtigen Verkehrsstraße bemächtigt hat. Die Brücken, schlecht genug für die äußerste Grenze Europas, ziehen ihre langen Spinnenfäden über den Strom nach der diesseitigen Stadt, die in dichten Häuserreihen an dem steilen Bergabhang von unten heraufsteigt. Hier oben stehen wir hoch über dem staubigen Gedränge der Krämerwelt zweier Weltteile. Hohe grüne Terrassen, die Mauern des Kremls mit mittelalterlichen Zinnen, weiße Kirchen mit grünen oder goldenen Kuppeln, und in den tiefeingerissenen Schluchten, welche die ganze Berghöhe dem Strome zu zerklüften, sattgrüne Wäldchen, schattige Gärten und trauliche Häuschen und Winkelchen aller Art.

Hinunter jedoch in den Staub und das Getümmel! Je mehr man sich den Brücken nähert, um so lebhafter wird das Bild. Aber es fehlen ihm die Farben. Auch der Lärm ist da; aber es fehlt ihm die Musik. Nichts von den herzerhebenden Paukenschlägen, die uns aus dem Summen eines deutschen Jahrmarkts entgegendröhnen, schon lange, ehe wir Baßgeigen und Klarinette vernehmen können. Nichts von den beflaggten Buden, nichts von den Seiltänzern, nichts von Riesen und Zwergen und dreiköpfigen Kälbern, die sonstwo wie ein luftiger Blumenkranz das Bild von Handel und Gewerbe umrahmen.

Dagegen endlose Reihen Wagen: Eisen führend, in allen Formen, wie sie der Bauer der Steppen oder der Nomade der asiatischen Wüsten braucht; Ballen von Tuch und Zeug, Holz und Bretter, Säcke aus Häuten und Fellen, unappetitlich für das Auge und empörend für die Nase, strotzend von Talg oder Tee. Rechts und links von den Brücken und, soweit das Auge reicht, den Ufern entlang ganze Inseln von Flußschiffen, ladend und entladend, ohne andre Hilfsmittel als die braunen Schultern der Tataren und die staubgrauen Rücken der Russen.

Jetzt betritt man das linke Ufer der Oka und das eigentliche Jahrmarktsgebiet. Breite Gassen, auf beiden Seiten von niedern, langgestreckten Gebäuden gebildet, die Hunderte und Tausende von kleinen, nach vorn offenen Kaufläden oder Buden enthalten, in denen alles, was die halbzivilisierten Millionen des Ostens bedürfen, zu finden ist: Nürnberger Spielwaren und Sheffielder Messer, Zobelfelle und persische Stickereien, Salzfäßchen und Schnapsflaschen. Ich könnte die Seite füllen, bis ich den Atem verliere, mit dem tausendfachen Allerlei, das Diogenes einst nicht bedurfte, um glücklich zu sein, und das vermutlich die Grundsätze des alten Weisen tausendfältig bestätigt. Das stattliche Haus des russischen Gouverneurs steht in der Mitte dieses wimmelnden Ameisenhaufens. Eine gemütliche Sommerwohnung für eine ruhige Familie! Hinter derselben zieht sich die breiteste Straße dieser Handelsstadt hin, meist mit europäischen Luxusartikeln gefüllt: schlechten Kupferstichen und Gipsfiguren, Juwelen und Goldwaren, Manschetten und Korsetten. An ihrem fernen Ende befindet sich das chinesische Viertel, das beinahe ausschließlich dem Teehandel gewidmet ist und leider schon fast verlassen war. Doch seien die wirklichen Chinesen selbst in der besten Zeit nur spärlich vertreten. Eine kleine russische Kirche schließt die Straße, von der nach rechts und links kilometerlange Nebenstraßen abzweigen, staubiger und unansehnlicher, im wesentlichen aber von gleicher Art.

Was das Volk der Händler und Käufer anbelangt, so ist das Merkwürdigste des Ganzen der Mangel an auffallenden Erscheinungen. Manchmal ein säuberlicher Perser, manchmal ein würdevoller Armenier, beide voll Spitzbüberei unter prangenden Kleidern. Die Tataren aber und die Russen, die Kirgisen und Baschkiren sehen einander unangenehm ähnlich. Sie sind graubraun in ihrer Tracht, braungrau in ihrer Hautfarbe, stumpf und gutherzig in ihren Gesichtern, ungelenk in ihren Bewegungen. Was ihren Geruch betrifft, so schweige ich davon. Nirgends ist mir die alte poetische Bezeichnung der »Erdgeborenen« so treffend erschienen. Es ist, als ob die ganze wimmelnde Brut ohne Darwinsche Seitensprünge aus dem Boden gekrochen käme.

Und doch sind dies die Keime eines Volkes, dem niemand mit Zuversicht seine große Zukunft absprechen kann, wenn sie ihm auch noch nicht gewährleistet ist, wie viele glauben.

Der einzige Anklang an die Jahrmarktfreuden der westlicheren Länder findet sich in Kunavin, einer kleinen Vorstadt, hinter dem chinesischen Viertel. Dort, von dem geschäftlichen Teil der Messe durch einen breiten Kanal getrennt, der den ganzen Jahrmarktsbereich zu einer wirklichen Insel macht, liegen die Champs Elysees und der Jardin Mabille von Nishnij Nowgorod. Barbarisch interessant in seiner Art ist es, wenn der im russischen Wodki plätschernde Tatar sich dem Dienst der Venus zu widmen sucht! Das Hauptvergnügen besteht jedoch in der kindlichsten aller kindlichen Freuden, dem Karussell. Gesang und Musik sind über alle Maßen, oder besser: unter allem Strich barbarisch. Es ist nicht die Barbarei in ihrer erschütternden Originalität, sondern die, welche aus den Abfällen der Zivilisation entsteht – Spuren von »Mädele, ruck, ruck, ruck« und Madame Angot in gräßlichem Gemisch. Das Getanze beschränkt sich auf männliche Bemühungen der Kellner. Doch läßt sich nicht leugnen, daß selbst in diesem dunkeln Gebiet eine gewisse Ordnung und ein Anstand herrscht, welcher der russischen Polizei Ehre macht. Daselbst befindet sich auch ein französisches Theater, in das sich die Polizei nicht einmischt.

Das war ein Tag auf dem Markt zu Nishnij Nowgorod. Am andern Morgen ging's durch das Gewimmel von Booten und Schiffen dem Süden zu. Ein prächtiges Bild zum Abschied, selbst noch aus der Ferne – der hohe Kreml mit der glänzenden Stadt, der schiffbedeckte Strom mit der Jahrmarktshalbinsel, die schon in aller Frühe ihren Staub und ihr dumpfes Brausen gen Himmel schickt. Aber bald wird's ruhiger und stiller. Die Stadt versinkt, und zwei Tage lang geht es den schweigenden, mächtigen Fluß hinunter, der all dies Leben geschaffen hat, das mir noch tagelang in den Ohren summt.


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