Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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107.

Lima, den 17. Oktober 1877.

Seit ein paar Stunden bin ich von meinem Ritt durch den heißen Norden von Peru zurück, der mich genau einen Monat lang in Bewegung gehalten hat. Jeden Tag acht bis zwölf Stunden im Sattel, jede Nacht drei bis dreizehn Stunden von dem vorigen Nachtlager entfernt, da vergeht dem Menschen von selbst die Schreibseligkeit. Zuweilen fehlt Papier oder Tinte, zuweilen Tisch oder Stuhl, aber immer das nötige Sitzleder. Ein peruanischer Sattel ist zwar gut genug, um ein Notizen- oder Skizzenbuch darauf zu füllen, er ist in dieser Beziehung sogar ergiebiger als manch andrer Sitz- oder Standpunkt. Aber Briefe schreiben unter solchen Umständen ist, wie Seiltanzen, selbst der Liebe nicht möglich.

Jetzt sitze ich in der »Sukkursale« des Hotel Maury, einem Nebengebäude des Haupthotels von Lima. Alles scheint hier »Sukkursalen« zu haben, die Gasthöfe, die Krankenhäuser, die Schuhläden und Schneidereien. Maurys »Sukkursale« wurde mir schon in Panama mit dem Bedeuten empfohlen, daß dieselbe von weniger Flöhen bewohnt sei als das alte achtbare Haus. Weshalb ich meinem bescheidenen Spanisch rücksichtslos die Zügel schießen ließ und meine derzeitige Behausung erzwang. Es sind zwei fast klösterliche Zimmer, mit den Fenstern nach dem Hausgang gerichtet, der sein Licht von einem Glasdach erhält, hell genug für ein heißes Land, in dem man die Sonne fürchtet. Dabei sind sie so still, daß man vergessen könnte, sich in einem Gasthof zu befinden. Die Dienerschaft ist ausschließlich männlichen Geschlechts und weit besser als in den Gasthöfen des Orients. Die Flöhe sind bescheiden, und Moskitos nicht vorhanden, wofür ich ihrem Schöpfer dankbar bin. Der Hausgang vor meiner Türe führt auf den gedeckten Balkon, welcher entlang dem ersten und einzigen Stockwerk des Gebäudes hinläuft und von dem man in eine der größten und lebhaftesten Straßen der Stadt hinabsieht. Ein nettes, freundliches Bildchen. Die Straßen Limas würden allzu eng erscheinen, wenn die niedlichen kleinen Häuser nicht Luft und Licht genug hereinließen. Diese haben nie mehr als ein Stockwerk über dem Erdgeschoß, in den ärmeren Vierteln nicht einmal dieses. Unten nach der Straße hin sind meistens offene Läden, in welchen Paris und London, China und Italien hausen; doch ist der feinere Luxus der Großstädte Europas nur in gemäßigter Form vertreten. Das obere Stockwerk mit seiner balkonartigen Veranda und deren Holzschnitzereien erinnert, wie so manches andre im Land, an ferne maurische Zeiten. Stil ist in alldem nicht zu finden, aber eine nette, hausbackene Gemütlichkeit, die ich im Äußeren einer spanischen Stadt kaum gesucht hätte. Sieht man durch den offenen Torweg in das Innere der größeren Häuser, so findet man fast immer einen gartenartig angelegten Hofraum mit Marmorstufen, Wasserbecken, reichverzierten Fenstergittern und hinter denselben Hausgeräte von untadelhafter Eleganz. Alles gleicht mehr einem reizenden Gartensalon als einem soliden Wohnhaus und paßt für ein Land, in dem es weder regnet noch auch die Sonne allzu zudringlich brennt, in welchem sich jedoch der Teufel von unten her jeden Augenblick in einer Weise bemerklich machen kann, daß ein leichter Strohhut und ein Nachthemd die einzig sichere Behausung des Menschen bleibt.

Seitdem ich hier bin, fanden drei Erdbeben statt, von denen eines als nicht unbedeutend gerühmt wird. Und ich nordischer Bär habe trotz des regsten wissenschaftlichen Interesses alle drei verschlafen! Dagegen regnete es in Chiglayo, einem Städtchen im Norden, eine halbe Stunde lang heftig, während ich durchritt. Der Schrecken, den diese merkwürdige Naturerscheinung bei der Bevölkerung hervorrief, war unbeschreiblich. Weiber und Kinder weinten, die Männer stürzten aus den Häusern. Eine gute Erderschütterung in Stuttgart oder Ulm wäre nicht imstande, die Gemüter gleich heftig zu erregen. Solche Gewohnheitsmenschen sind wir, selbst in Peru.

Ein Tag tüchtigen Regens wäre in der Tat für Lima ein schlechter Witz. Alle die niedlichen Häuser, ja selbst die Kathedrale, die nur hundert Schritte von mir mit spanischer Feierlichkeit ihre Rokokoschnörkel entfaltet, sind aus Lehm gebaut und würden zerfließen wie Zucker im Kaffee. Die Kunst zu dreckeln ist altindianisch. Sämtliche »vorweltlichen« Bauten, Festungen, Paläste und Gräber entlang der Küste sind aus demselben Stoff. Es ist einfach erstaunlich, wie dauerhaft der Lehm ist und wie wundervoll er sich zu wirklichen Massenbauten eignet. Die Bauernhäuser in Sibirien und die Fellahdörfer in Ägypten sind zwar aus dem gleichen Stoff, aber in beiden und in noch vielen andern Fällen ist zwar der Dreck groß, dagegen die Kunst klein. Hier scheint es fast umgekehrt. Ars latet arte sua, das heißt der Dreck verbirgt sich in sich selbst, und nicht bloß die einsamen Grabhügel der Inkas und die Tempelruinen des peruanischen Sonnengottes, nein, auch die buntverzierten Kirchen aus der Zeit der stolzen Spanier sind aus demselben verachteten Material.

Der sonnige Platz vor der Kathedrale, wie auch die spätspanische Fassade der Kathedrale selbst sind zwar hübsch und freundlich, aber nicht besonders erbaulich. Dagegen sind ein paar Klöster hier, halb zerfallen in ihren besten Teilen und gründlich verdorben, wo sie restauriert sind, in denen es ein wahrer Genuß ist, ein paar Stunden skizzierend zu verträumen. Das Beste ist der Klostergarten der Franziskaner, das Nächstbeste das Kloster »Mercedes«. Ein echtes stilles Kreuzgärtchen mit dem Brunnen in der Mitte, versunken im wirren Grün von Zypressen und Tamarisken, Bananen und Riesenweinstöcken, umgeben von Säulenhallen im reinsten, reichsten Renaissancestil, wunderbar gedämpft vom Staub des Alters, der sich in diesen Landen rascher auf der Menschen Werke legt als bei uns und ungestörter liegen bleibt. Dazu die leibhaftigen Kutten und Kapuzen, die unsereinen wie eine lebendig gewordene Vergangenheit anmuten, das leise Flüstern, die halboffenen Zellen mit ihrem wunderlichen Hausrat. Man kann hier stundenlang vergessen, daß wir im neunzehnten Jahrhundert leben. Ein andrer reizender Punkt der Stadt liegt bei der alten Brücke über den Rimac. Der wilde Bergstrom, der sich kaum von seinem Sturze über etliche fünftausend Meter der Kordilleren erholt und noch hier sein wirres Bett mit den Trümmern füllt, die er von den Felswänden des Urgebirges abgeschlagen hat, spaltet die Stadt in zwei ungleiche Hälften. Drei Brücken verbinden die neuerdings hübsch eingefaßten Ufer. Aber noch tritt da und dort das alte Lima, halb zerfallen und staubversunken, an den Rand des Flusses, phantastische Höhlen und Winkel bloßlegend. Dazwischen drängt sich die freie Natur von draußen, das Grün eines blühenden Tales, die nackten, gelben Felsenberge, welche schroff aus demselben emporsteigen, und hinter ihnen, allerdings nur in Stunden der Weihe, erhebt sich's – ferne – himmelhoch – ein wahres Feenbild – goldrote Spitzen, blaue Schatten, blitzender Schnee.


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