Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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123.

London, den 5. April 1879.

Die Klagen über schlechte Zeiten, welche man aus Deutschland hört, sind in England nicht weniger laut. Wie hier allgemein gefürchtet wurde, ist das Millennium für Handel und Gewerbe auch nach dem großen Karneval zu Paris nicht angebrochen. Tausende wissen nicht mehr, wozu sie Hände und Köpfe haben, namentlich aber, wozu den Magen. Eine der größten sozialen Fragen zeigt wieder einmal ihr bleiches Gesicht. Woher soll Arbeit für Millionen kommen, seitdem ein einziger Mann hinter einer Spinnmaschine das Werk von Hunderten verrichtet? Der Handel mit der ganzen Welt, aus dem man vor zwanzig Jahren in England die schönsten Luftschlösser baute, findet seine Grenzen vielleicht rascher, als man sich träumen läßt. Über kurz oder lang muß er den letzten Grönländer erreicht und befriedigt haben, und der Grönländer fängt selbst an, zu spinnen und zu weben wie alle andern. Was dann? Seit zehn Jahren fängt man auch hier an zu ahnen, daß uns von Zeit zu Zeit eine scharfe Lehre aus diesem unangenehmen Kapitel nicht erspart bleiben wird. Seit der Pariser Ausstellung ist es plötzlich Tausenden klar geworden: Frankreich, Belgien, die Schweiz, Österreich und namentlich auch Deutschland, trotzdem man von ihm nichts sah, können bald alles machen, ebensogut wie wir in England, und alle fangen an, Welthandel treiben zu wollen. Woher sollen die Käufer kommen, und vor allem: wo sollen die Käufer ihr Geld herbekommen? Denn selbst das System, einem Vizekönig oder einer südamerikanischen Republik hundert Millionen englisches Gold zu leihen, damit sie englische Maschinen und Waren kaufen, ist neuerdings etwas in Mißkredit geraten. Kein Wunder, daß wir uns in diesem Hundewetter, trübselig um unsre Kamine sitzend, die Köpfe zerbrechen.

Ja, Hundewetter!

Dieses fürchterliche Frühjahr schadet auch uns, und zwar weit mehr als die allgemeine Schlechtigkeit der Zeit. Die Landwirte verlieren Geld und Hoffnung dabei und haben von beidem nichts mehr für Dampfpflüge übrig. Doch schwimmen wir noch und hatten schon öfter schlimmerem Wetter zu begegnen. Wo es aber im allgemeinen hinaus will, weiß kein Mensch. In Leeds, Manchester und Bradford ist eine förmliche Seuche von kleinen Bankrotten ausgebrochen. Tatsache ist, die Leute ahnten nicht, wie arm sie sind. Moral: Nach England zu kommen bietet keine Gewähr für einen Sitz in Abrahams Schoß. Man kann das dem jungen Deutschland nicht genug predigen. Für meine Person werde ich mich wahrscheinlich nach Konstantinopel flüchten. Dort, bei Menschen, die an ihr Kismet glauben, sei es noch auszuhalten. Vielleicht gelingt es, hierüber näheres in Erfahrung zu bringen.


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