Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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102.

Wien, den 23. Oktober 1876.

Aus der russischen Bärenhöhle, in der mir's aus technischen Gründen vortrefflich behagt hatte, die aber aus politischen Ursachen ungemütlich zu werden drohte, bin ich wieder glücklich heraus. Über die Grenze zu kommen war diesmal aber keine Kleinigkeit. Zu Podwolotschyska, der Grenzstation zwischen Podolien und Galizien, werden Pässe und Gepäck geprüft. Ich glaubte alles, einschließlich eines guten Gewissens, in bester Ordnung zu haben. »Können nicht weitergehen! Paß fehlerhaft!« belehrte mich jedoch der Grenzoffizier. »Warum? Was fehlt?« – »Die Visa vom Gouvernement in Samara; müssen zurück!« – »Nun, ich kann doch nicht nach Samara zurück. Niemand verlangte dort meinen Paß zu sehen.« – »Hilft nichts; müssen zurück.« Der Offizier, ohne weitere Worte mit mir zu verlieren, ließ mich stehen. Ich hielt diesen Augenblick für geeignet, in aller Stille wieder in den Wagen zu steigen, um inkognito weiterzufahren. Den Paß, den ich zehn Minuten später in Österreich nicht mehr brauchte, konnte er ja behalten. Allein er verlor mich nicht aus dem Auge, denn er mochte meinen Plan erraten haben, schickte mir zwei Kosaken nach und ließ meine Habseligkeiten auf den Bahnsteig werfen. Das brachte auch mich wieder heraus; worauf der Zug abging. Gottverlassen stand ich neben meinem Handgepäck. »Donnerwetter,« brach ich in gerechtem Zorn los, »was soll denn nun geschehen?« – »Telegraphieren Sie nach Samara!«– »Geht nicht. Ich war zwölf Stunden davon beschäftigt; niemand kennt mich dort; man wird meinen Paß nicht so frischweg telegraphisch visieren.« – »Dann müssen der Herr eben selbst zurückfahren oder hierbleiben,« lautete der Bescheid. Ich griff in die Tasche nach einigen Rubeln, die sonst immer ihre Wirkung tun, aber – o Wunder! – der Offizier war kugelfest. Da fiel mir ein, daß ich einen Brief vom Kriegsministerium bei mir hatte. Ich zeigte diesen vor, und als man sich von der Echtheit der Unterschrift, des Poststempels und dergleichen überzeugt hatte, war ich zwar um einen höflichen Freund reicher, meiner Freiheit aber nicht näher. Eine amtliche Bescheinigung, wo und wie ich die letzten zwei Monate zugebracht habe, schien unerläßlich. Indessen, nach einem gemeinsamen kräftigen Trunk am Schenktisch des Bahnhofs wußte mein neuer Freund, was zu tun sei. In der Entfernung von zwei Stunden lag ein Dorf. Dorthin schickte er mich unter Begleitung etlicher Kosaken auf einem schnell herbeigeschafften Wägelchen. Der Ortsschulze, den wir nachts zwölf Uhr auffanden, heuchelte Überraschung, steckte schmunzelnd fünf Rubel ein, unterschrieb und stempelte eine Aufenthaltsbescheinigung und wünschte mir eine glückliche Reise. Um drei Uhr früh, mit dem ersten Güterzug, war ich über der Grenze.

Es sei dies in Podwolotschyska das übliche Verfahren, kleine Paßunregelmäßigkeiten auszugleichen.


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