Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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104.

Leeds, den 7. Mai 1877.

Wieder liegt ein Geburtstag hinter mir. Was tut's? Es wird alles um uns her älter. Sollen wir allein jung bleiben? Es wäre ein kindischer Wunsch. Gott hat mich von seiner schönen Welt ungefähr so viel sehen und genießen lassen als die meisten Durchschnittsmenschen, und noch etwas mehr. Auch sind wir wohl noch nicht zu Ende. Des Menschen Gefühl, mit seinem unbefriedigten, ruhelosen Drängen, will sich zwar nie zufriedengeben. Aber des Menschen Verstand, wenn er seine Grenzen zu erkennen gelernt hat, begreift auch, was Resignation auf deutsch heißt, ohne daß es ihm gar zu wehe täte.

Es ist freilich für Leute, denen es nicht besonders schlecht geht, leicht, in diesem Ton zu predigen. Doch schadet's auch nichts und macht uns stillvergnügt und dankbar.

Ich habe mir zu meinem Geburtstag, der zugleich meines einzigen Bruders Todestag ist, Mozarts Requiem gekauft. Eine wundervolle Musik, wenn man sie ruhig zu Haus verarbeitet. Den Kern derartiger Sachen bekommt man doch erst zu schmecken – zu ahnen, ist vielleicht richtiger gesagt –, wenn man sie, mit dem ganzen reichen Schnitzwerk des eignen mangelhaften Könnens verziert, selbst verarbeitet. Man braucht einige Zeit, um einen musikalischen Gedanken zu fassen, und ich liebe es, langsam zu denken. Darauf nimmt die beste Orchesteraufführung keine Rücksicht, und es bleibt am Schluß wenig, als das dumpfe Gefühl, außerordentlich viel Schönes vermißt zu haben. Ich glaube, es geht den meisten Leuten so, und man würde die Klage öfter hören, wenn sie auf sich selbst aufpassen wollten und ehrlich wären. Wer, mit Ausnahme der Leute vom Handwerk, kann behaupten, daß er moderne Musik Schumanns oder Wagners vom Blatt weg verstehe? Es ist unmöglich für unser Geschlecht. Die Jungen werden wahrscheinlich mit der entsprechenden Fähigkeit geboren, gerade wie wir schon mit dem Sinn für Mozart und Beethoven auf die Welt gekommen sind, über die sich die Zeitgenossen unsrer Klassiker jämmerlich den Kopf zerbrachen. Ich sollte Darwin darüber schreiben; der Gedanke paßt wundervoll in den Affenkasten.


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