Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

37.

Leeds, den 26. Februar 1871.

Eduards Briefe schicke ich hiermit zurück. Besten Dank für deren Zusendung! Ich hatte Gelegenheit, neuerdings manch andre Soldatenbriefe in englischen und deutschen Blättern zu lesen. Besonders und wohltuend auffallend ist in fast allen die Erregung des bei den Deutschen unsrer Jahrzehnte fast mehr als gebundenen religiösen Gefühls. Wenn Schleiermachers Begriffsbestimmung der Religion als »absolutes Abhängigkeitsgefühl« nicht für die ganze Welt gültig ist, so ist sie es jedenfalls für die germanische Rasse. Ich habe die Sache an mir selbst mehr als einmal erfahren, und die Geschichte unsers Volkes zeigt sie in allen schweren Stunden. Sobald der Mensch sich in der Hand von Kräften und Gewalten sieht, die er nicht mehr beherrscht, so beugt er sich vor seinem Gott. Der nämliche Gott, dem man in ruhigen Zeiten endgültig nachgewiesen hat, daß er sich nicht in das Walten und Weben seiner Natur zu mischen hat, regiert dann plötzlich Land und Wasser, leitet Kugeln dahin und dorthin und beschäftigt sich ganz besonders mit dem Wohl und Weh unsers armen Leibes. Werden die Zeiten besser, schmeckt uns wieder Essen, Trinken und Schlafen, so werden wir auch wieder die alles zergliedernden Philosophen, die wir zuvor gewesen sind.

Doch nicht ganz. Die Erfahrung solch harter Tage ist nicht völlig auszulöschen. Daß uns die Angst des Augenblicks unberechtigte Zugeständnisse abgezwungen hat, daß der Schöpfer des Himmels und der Erde nicht nach unsern Wünschen Kugeln leitet, die Cholera aufhält oder Stürme besänftigt, daß alles, was wir von ihm erbitten sollten, innere Fassung, Ergebung und Stärke ist: auch diese Erkenntnis ist ein Gewinn, der nur aus solchen Lebenserfahrungen gezogen werden kann und mehr wert ist als das dunkle, fromme Gefühl der Abhängigkeit.

Ein nettes und wie ich höre wahres Kriegsgeschichtlein, um, so Gott will, mit Krieg und Kriegsgeschrei nach und nach abzuschließen: Ein englischer Berichterstatter kommt voll deutschfreundlicher Begeisterung in Versailles an. Schon auf dem Wege findet er tausend kleine Beweise von der fast sprichwörtlich gewordenen Meisterschaft im Aufbau und im Arbeiten der gewaltigen Kriegsmaschine. Sein Stift wird nicht müde, sie aufzuzeichnen. In Bougival läßt er seinen Wagen im Wirtshaus und spaziert durchs Dorf. Ein Munitionszug begegnet ihm, nicht weit von seinem Absteigequartier. An dessen letztem schwerbeladenem Wagen bricht ein Rad. Hilflos stehen Roß und Fuhrmann. »Jetzt bin ich doch begierig, wie der sich aus der Not hilft!« denkt der Engländer, und spitzt sein Bleistift. Der Soldat wird von seinen Kameraden ruhig im Stich gelassen. Pfeifend geht er in eines der nächsten Häuser und kommt nach wenigen Minuten mit einem Wagenrad heraus, das er ansteckt, um sofort vergnügt und im Galopp seinem Zug nachzufahren. Ein ganzer Paragraph für den Engländer! Diese wundervollen Deutschen scheinen Lager von Wagenrädern entlang ihrer Verkehrslinie zu halten! Welch eine Organisation! Nach ein paar Stunden und mancherlei weiteren staunenswerten Beobachtungen kommt unser Berichterstatter ins Wirtshaus zurück und findet, daß seine eigne Droschke nur noch auf drei Rädern steht.

Aus Leeds ist nicht viel Neues zu berichten. Dagegen bekomme ich schmeichelhafte Zuschriften über das Wanderbuch, selbst aus Rußland. Ein Staatsrat C. v. N. ist die dankbare Seele. Die Russen schreiben übrigens alle in seinem überschwänglichen, sentimentalen Stile. Er schickt mir eine halbe Lebensbeschreibung. Eine seiner Anekdoten ist nicht übel. Eine Schuldentilgungsbehörde, welcher er vorstand, wurde aufgelöst. Er sollte anderweitig verwendet werden. Nichts war frei als die Leitung eines Salzwerks. Der Minister fragte ihn: »Verstehen Sie etwas von Salz?« – Antwort: »Ich weiß, daß das Salz die Würze des Lebens ist.« – Minister: »Das ist nicht viel. Aber ich denke, es genügt.« – Und es genügte.


 << zurück weiter >>