Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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135.

Kairo, den 27. März 1880.

So schlecht ist mir's noch selten gegangen; so gut auch nicht. Vierzehn Tage lang nichts zu tun, als zu warten, bis ein paar Schiffchen von einem Ende des Deltas nach dem andern gelangt sind! Dazu der Gedanke, in England so viel Wichtigeres im Stich gelassen zu haben, aber keine Möglichkeit, die Lage anders zu gestalten! Kein Ausweg, als Geduld!

Ich habe mich von jeher gern zu den Toten geflüchtet, wenn mich das Leben ärgerte. Hier in Ägypten winken sie uns von allen Seiten, aus allen Jahrhunderten. Ein wunderliches Volk, groß und heroisch, naiv und komisch, fromm und verrückt, wie man's haben will. In ihren großen Taten so stummberedt, in ihren kleinen Schwächen so leicht zu durchschauen. Eine stille Welt, überreich an dem, was sie zu sagen hat; hundertundfünfzig Generationen, die alle auf einmal zu leben scheinen! Und dabei harmlos und freundlich, und immer geduldig. Du kannst einem König auf die armen nackten Zehen treten und mit dem Schenkelknochen eines Kalifen Hunde werfen, im nächsten Augenblick erzählen sie dir dennoch wieder, wie schön es zu ihrer Zeit gewesen ist.

Schon in früheren Jahren hatte ich meine besonderen Lieblinge unter diesem gespenstigen Volk, die ich gerne besuchte. Es sind nicht gerade die Großen, wenn auch der alte Cheops mit seinem Pyramidenrechenexempel dazu gehört. Da ein Mameluckenbei, dort ein längst vergessener Sultan. Hier eine Katzengruft, dort ein namenloser Mönch oder ein Schech mit arabisch verdrehtem Judennamen. Vor sechzehn Jahren machte ich auf einer derartigen Wanderung durch vergangene Jahrhunderte die Bekanntschaft des Geheimen Hofrats Thi und gewann ihn besonders lieb. Es machte mir deshalb doppeltes Vergnügen, ihn gestern wieder aufzusuchen. Der alte Herr hat sich wenig verändert, wie ich erwartete. In seinem Alter verändert man sich nicht mehr.

Seit viertausendsechshundert Jahren lebt er auf dem Tafelland hinter Memphis; etwas nördlich von der Staffelpyramide von Sakkara, die schon zu seiner Zeit nicht mehr neu war. Dagegen funkelten die großen Pyramiden am Nordende des Totenfeldes damals in ihren polierten Kalksteinmänteln; denn sie waren kaum zweihundertfünfzig Jahre alt. Vermutlich hatte er mit seinem König manche ernste Beratung gehalten, wenn dieser ihn fragte, ob es nicht an der Zeit wäre, den Bau eines ähnlichen Wunderwerks, nur etwas größer, zu beginnen? Aber Thi war zu klug, um darauf einzugehen. »Die Zeiten seien vorbei,« meinte er. »Man habe Vernünftigeres zu tun. Man sei gebildeter geworden und feiner. Die dreieckige Größe der alten Dynastie sei so übel nicht gewesen, für ihre Zeit. Aber jetzt! Seine Majestät möge nicht vergessen, daß man nur noch zweitausendachthundert Jahre vor Christi Geburt stehe. Heute habe man der Nachwelt etwas andres zu hinterlassen als Dreiecke.«

Und dann ging er an die Arbeit; er baute zunächst sich selbst sein eignes Mausoleum, fein, niedlich, reizend, und erzählt darin, nach sechsundvierzig Jahrhunderten noch, wer er gewesen, und wie er's geworden, was er gehabt, und wie er's gebraucht habe. Sein eigner König, mit der Macht des ganzen Landes an den Fingerenden, hat nichts dergleichen zustande gebracht. Denn Thi hatte, was sein König vielleicht nicht besaß, Geist und Humor.

Eine Zeitlang ging's ihm freilich schlecht. Der Wüstensand deckte ihn mit der ganzen Herrlichkeit der großen Totenstadt ein paar Jahrtausende lang zu, während dies mit seines Königs kleiner Pyramide bei Abusir doch nicht möglich war, über die übrigens jedermann jetzt die Nase rümpft. In den fünfziger Jahren unsers Jahrhunderts wurde er jedoch von Mariette wiedergefunden. Und die Freude, die er Mariette und der ganzen Welt damit machte, nach sechsundvierzig Jahrhunderten! Und wie jetzt Gelehrte und Ungelehrte an seinen Hieroglyphen herumschnüffeln, seine Bilder abklatschen oder photographieren, die Zahl seiner Kälber ausrechnen und seine Hühner zählen! Wie Amerikaner englisches Bier bei ihm trinken und Deutsche deutsches, und die gelehrtesten Damen andächtig, wie in einem Tempel, seine Wirtschaftsberichte studieren! Es muß dem alten Geheimrat wohltun; denn er war nicht ganz ohne seine kleinen Schwächen.

Über das in tausend Hügelchen aufgeworfene Sandfeld, in dem noch heute emsig gewühlt wird, kommt man an eine tiefe, vierzehn Meter lange, zwölf Meter breite Grube mit glatten weißen Mauerwänden. In derselben stehen noch zehn viereckige massive Pfeiler, die seinerzeit das Dach trugen, das den Bau bedeckte. Denn damals war dies keine Grube, sondern ein freistehendes Gebäude, vermutlich an der Hauptstraße der großen Gräberstadt gelegen, die jetzt fünf bis sechs Meter unter dem Sand liegt. Wir steigen in diese Haupthalle hinab. An ihrer Südseite führt ein schmaler Gang nach einer prächtigen Totenkammer, deren flache, noch vollständig erhaltene Decke von zwei Pfeilern getragen wird, und in deren Wand, nach Westen hin, zwei ornamentale Nischen angebracht sind, vor denen früher die Statue des Thi und die seiner Frau gestanden haben sollen. Denn Thi, obgleich nicht von Adel, war mit einer Prinzessin verheiratet, welche er zu öfterem »die Palme der Liebenswürdigkeit gegen ihren Gatten« nennt. Der kleine Beisatz: »gegen ihren Gatten« gibt viel zu denken. Wieviel Palmen der Liebenswürdigkeit unsrer Tage verdienen sich dieses Zusätzchen? – Neben der Hauptkapelle ist ein kleines Seitengemach, das der gute Thi, wie mir scheint, für die ärmeren Anverwandten seines Hauses bestimmt hatte. Seine eigentliche Gruft mit dem schlichten, leider leeren Sarg ist unter der Kapelle und war vor sechzehn Jahren noch durch ein Loch im Boden der Vorhalle erreichbar, ist aber jetzt wieder vom Wüstensand verschlossen; vielleicht auf ein weiteres Jahrtausend.

Der weiße Kalkstein der prächtig geglätteten Wände ist mit Hieroglyphen und bildlichen Darstellungen bedeckt, die in dem überdachten Raum selbst ihre bunten Farben bewahrt haben. Die Feinheit der Umrisse, die Naturwahrheit, mit der namentlich Tiere aufgefaßt sind, steht in eigentümlichem Gegensatz zu der Unnatur des Handwerks, über die der Künstler einer späteren Zeit nicht hinauskam. This eigne Gestalt, sein scharfsinniges Gesicht und sein verdrehter Oberkörper sowie der unvergeßliche Name des großen Mannes treten uns auf allen Seiten entgegen. Er schreibt sich, wie der Laie vermuten dürfte, mit einer Zuckerzange und zwei Fleischmessern. Der Gelehrte aber erkennt in diesen Zeichen sofort zwei Straußenfedern und einen heiligen Strick, wovon ich mich selbst überzeugt habe. Gern und wiederholt erwähnt er, daß er unter drei Königen der fünften Dynastie Kammerherr, Palasttorvorsteher, Präsident des königlichen Schriftwesens (Archivrat) und Herr des Geheimnisses (Geheimrat) gewesen. Nebenbei war er Vorstand des Kirchenrats (»Oberster der Propheten«, übersetzten die etwas aufgeblähten Hieroglyphengelehrten) und »Pfleger des Mysteriums der göttlichen Rede«, was wohl nichts andres heißt, als daß er sich bei geeigneter Gelegenheit als Oberhofprediger und auch sonst salbungsvoll auszudrücken wußte.

Trotz dieser geistlichen Würde beschäftigt sich die Ausschmückung seiner Totenkammer viel weniger mit dem Jenseits als mit den Arbeiten und Vergnügungen, dem Reichtum und den Ehren dieses Lebens. Der Herr Geheimrat ist nicht gewohnt, sein Licht unter den Scheffel zu stellen. Für Gänsestopfen und Kranichefüttern, für Eseltreiben und Jagdhundezüchten, für Säen, Ernten und Brotbacken, für Pflügen und Bewässern, für Fischen, Jagen und Schlachten, für Schiffe- und Palästebauen, für Schreiben und Malen, für Essen und Trinken und fröhliches Schaffen jeder Art zeigt Thi eine allseitige, lebendige Vorliebe. Er war ein Mann, den die Arbeit groß gemacht, der sich seiner Abkunft nicht schämt und seines Fleißes sich rühmt. Vielleicht etwas allzusehr. Denn wo nur irgendein übriges Fleckchen blieb, zwischen den Beinen eines Ochsen oder im Getümmel der Jagd auf Nilpferde, da steht auch er, in wohlgetroffenem Bildnis, bald mit, bald ohne sein falsches Bärtchen, auf das er viel hält, und so, daß sich niemand täuschen kann, mit seiner Zuckerzange – Verzeihung! – mit dem heiligen Strick und den zwei Straußenfedern zur Seite. Ich gebe es ja zu, er hatte seine kleinen Schwächen. Welcher große Mann hat sie nicht? Eines muß ihm wehe tun wie den Freunden, die er sich noch nach sechsundvierzig Jahrhunderten zu erhalten und zu gewinnen weiß. Seine Mumie wurde nie gefunden. Als ich mich mehr als eine Stunde lang mit ihm unterhalten und die Araber, welche seine Ruhestätte bewachen, mit einem Bakschisch fortgeschickt hatte, setzte ich mich vor der Grabespforte auf den Boden, öffnete ein Fläschchen Wein und erquickte mich an einem Hühnerschlegel. Eine wehmütige, doch nicht unerfreuliche Idylle im gelben, brennenden Wüstensand! Keine Spur von Leben ringsumher als das Leben, das seit viertausendsechshundert Jahren tot ist, und die zweibeinige Eintagsfliege mit dem rasch verschwindenden Hühnerschlegel! Vor mir lag der Scherben eines zerbrochenen Schädels und in modrige Lappen gewickelt das Schienbein einer zerlumpten Mumie. Vielleicht doch das deine, lieber Geheimrat! Aber man findet's nicht der Mühe wert, dich aufzuheben. Tut nichts. Was du gedacht und geschaffen hast, lebt und blüht noch – und das bist du. Wieviel wird von unsern heutigen Geheimräten übrigbleiben, wenn wir wieder vier Jahrtausende vergangen sind? Du lächelst? Kein Wunder – du hast gut lachen.


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