Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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109.

An Bord der »City of Panama«, den 6. Dezember 1877.

In drei Tagen sollen wir in San Franzisko sein. Inschalla! Die Boote der amerikanischen Gesellschaft, die diesen Teil der hohen See unsicher machen, fahren nämlich weder mit der englischen Ruhe, welche auf dem Meer zu Haus ist, noch mit der deutschen Zwangsläufigkeit, die in den Grund bohrt, was im vorgeschriebenen Weg liegt. Vor etlichen Tagen sind wir an dem Hafen von Salvador, den wir anlaufen sollten, vier Stunden weit vorbeigefahren, ehe wir den kleinen Irrtum entdeckten und wieder zurückliefen. Und gestern entstand ein Höllenlärm auf Deck, weil das Schiff der unwirtlichen Küste Niederkaliforniens zusteuerte, wo wir nichts zu schaffen gehabt hätten, als zu scheitern. Solch kleine Unregelmäßigkeiten scheinen sich aber ganz von selbst zu verstehen, und so ist zu hoffen, daß die »City of Panama« glücklich im Hafen anlangen wird, den sie schon hundertmal trotz Kapitän und Mannschaft erreicht hat.

Küstenfahrten wie die von Callao nach »Frisko« zu beschreiben ist langweilig, von ihnen zu lesen langweiliger. Für ein salzwassergetränktes Gemüt ist es ersprießlicher, meinen Ritt über die Wasserscheide der Kordilleren fortzusetzen. Es war fünf Uhr abends, als unsre Saumtierlokomotive aus dem letzten Tunnel heraus über die letzte Brücke schoß und vor dem letzten Bahnhof anfuhr, den sie bis jetzt erreichen kann; all das in ein und derselben Minute. Bahnhof! Ein paar Bretterbuden, in die Spalten von senkrechten Felstrümmern eingezwängt, zwei Geleise, für die mit Mühe und Not der nötige Raum ausgespart ist. Ein düsterer Abend, der mit dunkelgrauen Wolken den Schlund zudeckt, in dem wir uns verfangen haben; ein düsterer Winkel in den Eingeweiden der Erde, aus dem kein Ausgang möglich scheint.

Und dann der Gasthof, den man hinter und über dem Bahnhof auf Holztreppen erreicht! Eine kleine, gebrechliche Veranda, den Berghang überhängend, eine Reihe Holzkämmerchen in die Felsritzen hineingebaut. Vor uns der Blick auf die gegenüberliegende Felswand mit ihrer Tunnelöffnung, und auf das schwarze Spinnengewebe über der unergründlichen Schlucht, worin der Rimac braust. Regen und Nebel in allen Winkeln. Um uns, oder besser gesagt zu unsern Füßen, ein paar Ställe und Indianerhütten und, sorglos und ungestört von den düsteren Eindrücken ihrer Umgebung, die erste Herde Lamas, die ich sah.

Der Fremdenzudrang des Gasthofs war bedeutend; gegen zwanzig Gäste, die zumeist von oben heruntergekommen waren und auf den morgigen Zug warteten. Wildes Volk, Hirten und Bergleute, und ein paar verdächtige Gestalten ohne nennenswerten Charakter. Das schlimmste war, daß ein Kollege von mir, der ein Silberbergwerk etliche tausend Fuß über Anchi betreibt, heute eine Erholungsreise angetreten hatte und hier zu übernachten gedachte. Der Mann war betrunken, wie man sich nur auf diesen wilden Höhen betrinken kann. Mit einem geladenen Revolver in jeder Hand rannte er in den Winkeln und Kämmerchen unsrer Bretterbuden herum, die Leute umarmend und im nächsten Augenblick auf sie anlegend und sie mit augenblicklichem Tod bedrohend. Der Spaß dauerte bis in die tiefe Nacht. Es war ein förmliches Räuberspielen, mit richtigen Revolvern und wirklichem Pulver, das jeden Augenblick losgehen konnte und in der Tat etliche Male losging. Am andern Morgen und später in Lima fand ich Mr. Melville wieder, den ruhigsten und anständigsten Menschen der Welt, in Glacé und schwarzem Rock, und kaum von einer dämmernden Erinnerung verfolgt, daß er nahe daran gewesen war, ein Dutzend Menschen ins Jenseits zu befördern. Niemand wunderte sich darüber. Es sei dies ein gewöhnliches Vorkommnis in der höheren Gesellschaft Perus. Man habe in diesen unwirtlichen Bergen so gar keine andre Möglichkeit, sich zu zerstreuen und ein wenig aufzuheitern.

Wir hatten übrigens nicht viel Zeit, das zurückkehrende Bewußtsein unsers erregten Freundes zu beobachten. Besaglos Pferde standen bereit, und ich erhielt nicht ohne Mühe ein Maultier vom Wirt, das jedoch nicht weiter gehen sollte als bis zur Casa Palca, dem letzten Hause, das auf dem Weg zum Passe zu finden ist. Damit zogen wir ab in den feuchten, sich lichtenden Morgen hinein.

Zuerst ging's hinunter in die Tiefe der Felsschlucht, wo sich der Saumpfad am brausenden Rimac hinaufwindet. Die ersten zwei Stunden, bis Chicla, dem letzten Dorf im Gebirg, waren landschaftlich wohl das Schönste des Tages. Sie sind freilich auch das Unangenehmste für die Nerven, die noch nicht gelernt haben, auf ein Maultier zu vertrauen. Unten im Innersten des Gesteins ist's einem wohl genug. Im schlimmsten Fall fällt Mann und Reiter in einen kalten Bach. Aber alle Viertelstunden hat der Saumpfad und der Rimac nebeneinander keinen Platz, und es geht schwindelnd hinauf an einer scheinbar unpassierbaren Felswand, über einen Grat und wieder ebenso hinunter in die nasse Tiefe. Dabei ist es, als ob ein bösartiger Kobold die Lamas führte. Wenn auf hundert Schritte nicht ein Zoll breit Raum zum Ausweichen vorhanden ist, kommt sicher eine Herde von dreißig, vierzig dieser wundervollen Tierchen um die Felsenecke und sieht mit ihren klugen Augen verwundert dem ungewohnten Reiter entgegen. Besaglo natürlich kennt die Sitten des Gebirgs, und ich lasse mein Maultier machen was es will. Dann, wenn der Zusammenstoß unvermeidlich scheint, klettern die Lamas auf irgendeine unmögliche Felskante oder verschwinden in einem Riß, den nur sie zu sehen vermochten, und benutzen ruhig die Gelegenheit ihrer Todesgefahr, um ein Maul voll Gras zu erwischen.

Chicla ist ein größeres Dorf, in dem wir unsre Tiere beschlagen ließen und uns bei einem Deutsch sprechenden Italiener mit einem Tropfen Schnaps zu stärken suchten. Die Bevölkerung ist ein Gemisch von Indianern und Spaniern und scheint ein wenig Viehzucht zu treiben: Kühe, Schafe, Lamas. Die Häuser erinnern an Dörfchen in Südtirol, als ob eine ähnliche Natur auch durch den Menschen hindurch nur Ähnliches schaffen könnte.

Die Schneegipfel über uns rücken näher. Es ist auch Zeit. Wir sind auf einer Höhe von dreitausendsiebenhundert Metern, aber noch lange nicht hoch genug. Die Spuren der künftigen Eisenbahn, die bis jetzt noch immer da und dort sichtbar waren, verschwinden, da dieselbe ihren »Gipfeltunnel« mehr nach Süden hin findet. Wir folgen dem Rimactal, das weiter zu werden anfängt und den öden Charakter des eigentlichen Hochgebirgstals annimmt. Aber eins ist eigentümlich. Noch immer sind die Wasser des Rimacs ein trübes Gelb und bleiben so, fast bis zu den moorigen, sumpfartigen Quellen, die wir in der Nähe der Wasserscheide zu überschreiten haben; denn bis auf die Gipfel dieser Riesengebirge hinauf ziehen sich gewaltige, rotbraune Lehmschichten, in welche die Gebirgsbäche tiefe Schluchten gerissen haben.

Vorüber an etlichen Silberbergwerksanlagen, die halb zerfallen in trostloser Einsamkeit daliegen, erreichen wir Casa Palca, den letzten unbedeutenden Weiler auf dieser Seite der Berge. Eine kleine Kneipe bietet eine erwünschte Frühstücksgelegenheit, Eier und Hammelfleisch. Unser Wirt ist ein Spanier, unsre Gesellschaft ein Indianer reiner Rasse vom alten Inkastamm, der sich zum Zweck des Bettelns eingefunden hat, eine jämmerliche Gestalt. Um einen Schnaps läßt er sich skizzieren und zeigt ein lebhaftes Interesse an seinem Ebenbild, ein größeres noch am Schnaps. Auch bekommen wir hier mit einiger Mühe einen Führer, der nötig erscheint, um mich wieder zurückzubegleiten, der aber gleich darauf eine Stunde lang verschwindet, um sich in einem Seitental ein Pferd zu borgen, auf dem er uns später, fröhlich seine traurigen Indianerlieder singend, einholt.

Und weiter geht es, mühselig weiter. Nicht weil der Weg schlimmer ist als zuvor. Auch scheint mein Maultier an seine Arbeit gewöhnt zu sein. Aber Besaglos Pferd fängt an, den Einfluß der gewaltigen Höhe zu fühlen, auf der wir uns befinden. Erschöpft bleibt es vor jedem steileren Hange stehen, tief Atem holend, zitternd. Noch sieht man da und dort ein Lama grasen. Aber immer stiller wird die Welt um uns her, und ein dünner, eisiger Wind weht von den nahen Schneefeldern herüber.

Der letzte Rücken scheint unerreichbar zu sein. Besaglos Gaul ist nicht mehr der einzig Leidende unsrer kleinen Gesellschaft. Auch mir fängt der Atem an auszugehen und der Sinn für Natur und Kunst zu schwinden. Die unheimlichen Wunder der dünnen Luft umgeben uns. Besaglo ist ein paar Schritte voraus und ruft mir hier und da etwas zu. Es klingt wie eine Geisterstimme aus weiter Ferne und ist fast nicht zu verstehen. Ich raffe mich auf zu einem Hallo und erschrecke förmlich an meiner eignen Stimme. Etwas übel ist mir's schon seit der letzten halben Stunde und manchmal packt mich ein betrunkener Schwindel. Aber wir sind noch nicht oben. Ein sumpfiger Morast ist zu umreiten, aus dessen schwammigem Grund der Rimac seine ersten Wasser zieht. Das ist wenigstens ein Zeichen, daß es nicht mehr weit sein kann. Auch gelingt es Besaglo, mir begreiflich zu machen, daß die nächste Höhe, ein Sattel zwischen zwei spärlich mit Schnee bedeckten Felsspitzen, das Ziel meines Ritts sein werde. Meine Hände sind weißblau, wie ich sie noch nie gesehen; meine rötliche Nase, welcher das Klima von Peru ihre ganze Farbenblüte zurückgegeben hatte, ist blaugrau. Mir selber ist es grüngelb zumut oder schlimmer. Aber aufwärts, trotz des Gedankens, dreihundert Schritte vom Ziel umzudrehen, der mir, ich hoffe zum erstenmal im Leben, durch den Kopf geht! Vorwärts!

Endlich, dank meinem Maultier, sind wir oben. Noch dreihundert Schritte, und die jenseitigen Ketten des riesigen Gebirgslandes liegen vor uns, das Flußgebiet des Amazonenstroms und der heimatlichen Atlantis. – Es wäre unrecht, dem Eindruck zu trauen, den dieser Anblick hervorbrachte; fünftausend Meter über der Meeresfläche ist der Mensch nicht mehr fähig, die Größe der Natur zu bewundern. Alle Tatkraft schien mir durch die Fingerspitzen geträufelt zu sein. Ich war kaum mehr imstand, mein Skizzenbuch hervorzuziehen. Gipfel an Gipfel. Wenig Schnee. Nicht eine Spur von Gletschern; öde Hänge und dürre Halden. Todesstille. Das war's ungefähr. Und der brennende Wunsch, sobald als möglich wieder unten zu sein. So viel kann ich mit Bestimmtheit versichern, daß landschaftlich das Schweizer Faulhorn den höchsten Kordillerenpässen vorzuziehen ist. Mit heftigem, aber kaum hörbarem Geschrei nahm ich von Besaglo Abschied, der seinen Weg allein durch die öde Wildnis fortsetzte. Dann drehte mein verständiger Sohn eines Esels von selbst um und trabte befriedigt seiner fernen Heimat zu, während, als Abschiedsgruß, der nächste Berggipfel uns eine Wolke von Schnee und Hagel nachsandte, ohne Zweifel ergrimmt über die geringe Begeisterung, die ich bei seinem erhebenden Anblick an den Tag gelegt hatte.

Das war meine Kordillerenbesteigung. Sie war trotz der fremden Namen und des fremden Himmelstrichs in einem wesentlichen Punkte den meisten Freuden ähnlich, die wir uns auch zu Haus hinter dem Ofen machen: nicht das Ziel, der Weg zum Ziel war der Genuß.


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