Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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113.

Paris, den 29. April 1878.

Als ich vor vier Wochen hier ankam, regnete und schneite es den ganzen Tag, und der erste Blick über das Ausstellungschaos war nicht bezaubernd. Doch konnte selbst ein nasser Pudel ahnen, daß es in ein paar Monaten anders werden würde, wenn er vom Trocadero herunter im treibenden Schneegestöber die Grundlinien der Riesenbauten verfolgte.

Es ist Karfreitag sonst in der Welt, wenigstens in Deutschland. Die Franzosen kümmern sich bekanntlich noch weniger darum als die Engländer, und die Kosmopoliten der Weltausstellung wissen kaum mehr, ob es Tag oder Nacht ist, geschweige denn Karfreitag.

Ich selbst habe heute den ersten ruhigeren Abend. Mein Tempelchen steht und hat, mit fünfzig Photographien geschmückt, ein munteres und behagliches Aussehen. Auch meine Maschinen sind unter Dach. Ich könnte zufrieden sein.

Natürlich ist noch gar viel zu tun, zu glätten und zu fegen, zu malen und zu verkleiden. Sonst würde ich meinen Leuten, die seit drei Wochen keinen Sonntag hatten, heute gern einen Feiertag gegönnt haben. Wie jedoch die Sachen stehen, mußten sie dran wie ich und die tausend andern, die in diesem Chaos von Schmutz und Lärm hantieren.

Den andern geht es zu meinem Trost zehnmal schlechter als mir. Und ihr Trost ist, daß noch immer die feierliche Eröffnung dieser »Apotheosen der Industrie« (französische Bezeichnung unsers Treibens!) mit dem verzweifelten Aufreißen wohlvernagelter Kisten zusammenfiel.

Am weitesten voran sind die Chinesen; am meisten zurück, wie mir scheint, die Amerikaner. Ein einziger Aussteller ist fertig, ein Engländer; und seine Ausstellungsgegenstände sind Geschirre, namentlich solche, die mit der Nachtseite des Lebens im Zusammenhang stehen. Die benachbarten französischen Arbeiter haben ihm vorgestern einen Ehrenblumentopf überreicht, den er mit verlegenem Lächeln – er spricht nicht Französisch – in einen der seinen hineingestellt hat. Die Franzosen sprachen dabei »mit Effusion« von civilisation, progrès, fraternité des nations, und meinten's gut.

Die einzige Abteilung, die wirklich vollständig fertig sein wird, ist, wie immer, unsre englische Agrikulturmaschinenhalle. Hier hat man mit Leuten zu arbeiten, welche Übung im Ausstellen haben. Woher es kommt, daß wir nicht nur am 1. Mai, sondern sogar schon am 25. April dem Besuch des Prinzen von Wales mit Fassung entgegensahen. Auch Fowler ist, teilweise zum Empfang des hohen Besuches, von London herübergekommen. Es geht ihm wie dem Prinzen selbst. Die Ausstellung ist eine nette Ausrede, um die trübe Atmosphäre Londons mit der heiteren von Paris zu vertauschen. Er war über meine Fortschritte sehr erfreut und nahm mit Behagen von meinem Lehnstuhl Besitz, welcher allerdings zur Zeit der einzige Punkt ist, der in dem Gewühl der sechzig Morgen um uns her ein wenig Ruhe gestattet.

Übrigens will ich Euch und mich vorderhand mit Ausstellungsbriefen verschonen. Es ist noch alles zu wüst, wenn auch nicht mehr leer, um einen richtigen Eindruck des Ganzen zu bekommen. Warten wir den Eröffnungstag ab. Nur eins sei erwähnt: die wunderliche Stimmung der Pariser Presse der Ausstellung gegenüber, allem gegenüber. Eine so tiefgehende Spaltung in Grundsätzen, Gefühlen und Meinungen, wie sie hier zutag tritt, ist einfach betäubend. Die Katzbalgereien der amerikanischen Zeitungen machen dagegen den Eindruck von schlechten Witzen. Hier scheint alles blutiger Ernst und alles, vom Dasein Gottes bis zur Ernennung des Hilfsflurschützen im letzten Krähwinkel von Frankreich, dient dem politischen Gezanke. Vermutlich ist mehr Geschrei als Wolle dabei, nach der Art dieses Volks; aber das Geschrei ist ohren- und herzzerreißend. Und so ist natürlich auch die Ausstellung von A bis Z ein hochpolitisches Ereignis. Wenn den Chinesen ein Glaskasten umfällt, so erheben »Figaro« und andre legitimistische und bonapartistische Blätter ein Zetergeschrei über den erbärmlichen Schwindel auf dem geheiligten Marsfeld. Wenn ein Engländer seinen Schrank mit Zwirn vollgestellt hat, so jubelt die republikanische Presse über den Triumph des Friedens und der Freiheit, den die erste zivilisierte Nation – wohlgemerkt, nicht die Engländer mit ihrem Zwirn, sondern die Franzosen, die den Zwirn betrachten – der Welt vorführt. Dies hat wenigstens das Gute, daß es den Franzosen nicht an scharfer Selbstkritik fehlt, wenn sie auch manchmal so unvernünftig ist als ihre angeborene Selbstbewunderung.

Zu etwas anderm! Wie ich lebe und wo? Der Boulevard Haußmann, der im Norden der mittleren Stadt vom Boulevard Montmartre zum Arc de Triomphe führt, ist eine der schönen ruhigen Straßen, die das Kaiserreich geschaffen hat. Dort habe ich im fünften Stock eines palastartigen Hauses ein niedliches Nest gefunden; auch Luft und Licht, wie es sich ein leidenschaftlicher Bergsteiger nicht besser wünschen könnte.

Jeden Morgen um sieben Uhr wandre ich nach der Ausstellung. Es ist ungefähr dreißig Minuten zu gehen und ein hübscher Spaziergang, seitdem sich der Frühling mit Macht in den Elysäischen Feldern rührt. Er führt mich unmittelbar am Palais des Elysée vorbei, über den Rond point der Champs Elysées und durch die Avenue Montaigne der Seine und dem Pont d'Alma zu. Der große Triumphbogen rechts, der Obelisk des Platzes de la Concorde links; in unmittelbarer Nachbarschaft der alte, erste Industriepalast. In der Avenue Montaigne stehen das reizende pompejanische Palais des Prinzen Napoleon und die Tore des berühmten Jardin Mabille. Dann kommt die Aussicht von der Almabrücke: stromabwärts rechts und links die Bauwerke der neuen Ausstellung, der barock großartige Kunstpalast des Trocadero, und die eisernen und gläsernen Riesenhallen auf dem Marsfeld, die trotz aller Bemühungen alles eher sind als schön; stromaufwärts in duftiger Ferne die Trümmer der Tuilerien und weiter rechts die goldene Kuppel der Invaliden. Dann Staub und Morast und turmhoch die unvermeidlichen Kisten. Dieser Spaziergang im jungen Frühlingsmorgen ist nahezu das einzige, das mir Paris bis jetzt gewährt hat; aber es genügt.


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