Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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35.

Leeds, den 16. Januar 1871.

Die Beschießung von Paris gibt den englischen Zeitungen, die, eine um die andre, bald langsamer, bald schneller, die französische Trikolore aufstecken, wieder genügenden Stoff zu Gefühlsausbrüchen. Sie leugnen nicht das Recht, zu diesem letzten Mittel zu greifen, um die Übergabe der Stadt zu erzwingen; aber alle halten die Maßregel für eine unnötige Grausamkeit »gegen Weiber und Kinder«. Vor zwei Monaten waren die bittersten Artikel über den Plan, Paris auszuhungern, an der Tagesordnung. Sturm und Beschießung war damals »männlich«. »Mit Hunger griff man die Schwachen an.« Die Geschichte von dem Esel, der zuletzt getragen werden muß, wiederholt sich in der Presse immer und immer wieder. Der Kuckuck hole alle Zeitungsschreiber!

Wie lange wird's noch dauern? Die ganze Welt fragt sich's jeden Tag und noch ist kein Zeichen einer Morgenröte in dieser Gewitternacht zu erblicken. Ich würde mich gerne gedulden, wenn nur die Elsässer ihre »deutsche Treue« nicht sogar am falschen Fleck zeigen wollten!

Um so mehr freut mich mein Schwabenland. Namentlich hat mich's erbaut, daß der württembergische Sanitätsverein jedem Soldaten »in sinniger Weise« ein Taschentuch zum Christtag geschickt hat. Und noch gibt es Leute, welche zweifeln, daß wir an der Spitze der Zivilisation marschieren!

Auch wieder einmal etwas Heiteres! Bradford liegt ein paar Stunden von hier; es arbeitet in Flachs, Wolle und viel Geld. Ein dortiger Bankier hatte seine älteste Tochter einem Pensionat in Paris anvertraut. Kurz nach Ausbruch des Kriegs besuchte er sie und wurde als reicher »Mylord anglais« von der bezaubernden Vorsteherin, einer Schar Lehrerinnen und den bevorzugten Zöglingen aufs liebenswürdigste empfangen und bewirtet. Der entzückte Papa ist seelenvergnügt. Man spricht natürlich auch vom Krieg, von der Möglichkeit (an die kein Mensch im Ernste denkt) einer Belagerung von Paris. Mr. Smith, weinselig und vaterliebesglücklich, sagt lachend: »Ah, in diesem Falle, meine Damen, kommen Sie nur alle zu mir nach Bradford, alle, alle!« Man lachte, und Herr Smith glaubt einen vortrefflichen Witz gemacht zu haben. Aber der Witz kam erst. Im September erhält der wackere Smith ein Telegramm aus Southampton. Darin zeigte seine Tochter an, daß sie selbst, die Vorsteherin, sechs Lehrerinnen, drei Mägde und vier oder fünf französische Zöglinge soeben angekommen seien und ihn sehnsüchtig erwarten; auch daß sie alle nicht genug Geld hätten, um ohne weiteres nach Bradford zu reisen. Verzweiflung. Smith rennt, sich die Haare raufend, mit dem Telegramm in der Hand, in der Stadt umher und fragt jedermann um Rat. Aber guter Rat ist teuer. So entschließt er sich endlich zu dem schweren Schritt und fährt nach Southampton. Seinen Kampf in den Armen von fünfzehn Damen überlasse ich einer regeren Einbildungskraft. Mittlerweile hat seine Frau von der Sache gehört. Die ganze Gesellschaft ist bereits auf dem Wege nach Bradford. In Rugby trifft sie ein Telegramm: seine Frau werde die Französinnen um keinen Preis ins Haus lassen. Schließlich löste sich auch dieser Knoten, und heute sind die Flüchtlinge in einem der städtischen Gebäude untergebracht und betreiben auf englischem Boden ein in bester Blüte stehendes französisches Institut.


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