Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

99.

Petersburg, den 31. August 1876.

Meine Petersburger Abenteuer gehen vorläufig ihrem Ende entgegen. Das Verschiffen der unglücklichen Maschine kostet ein paar Tage Zeit. In den Nebenstunden, die ein derartiges Geschäft immer abwirft, wird es vielleicht möglich sein, Euch einen Begriff davon zu geben, wieviel unter Umständen ein Ingenieur zu tragen hat. Denn auch bei ihm endet nicht jeder Kampf mit einem Sieg; was leichter zuzugeben ist, wenn es schließlich dennoch heißt: »Ende gut, alles gut!« Aber selbst dies ist nicht immer und überall der Fall.

Zuerst eine kleine Einleitung, ohne die Euch alles allzu nebelhaft erscheinen müßte. Zwei Fabriken in England machen vorzugsweise Straßenlokomotiven, Aveling und Fowler. Aveling beschränkt sich auf dieses Gebiet, hat aber gerade deshalb einen beträchtlichen Ruf als Straßenlokomotivfabrikant. Bis jetzt waren seine und unsre Maschinen von fast gleicher Form. Vor einem halben Jahr machten wir auf mein Drängen die ersten Versuche mit einem neuen System, dessen Haupteigentümlichkeit in außerordentlich hohen Straßenrädern besteht. Die erste Maschine zeigte große Vorteile auf schlechten Wegen und unter sonstigen Schwierigkeiten und wurde sodann gründlich umgestaltet. Ihre Hauptvorzüge blieben, nebensächliche Fehler wurden teils vermieden, teils durch andre ersetzt, wie dies in der Entwicklungszeit eines neuen Gedankens üblich ist.

Um diese Zeit erschien ein junger Mann in Leeds, der sich später als Aide-de-camp des Kaisers von Rußland und Sohn des Kriegsministers Miliutine entpuppte und sich unsre Straßenlokomotiven sowie die erwähnte Versuchsmaschine ansah. Letztere gefiel ihm außerordentlich, so daß er eine ähnliche im Namen seines Kriegsministeriums bestellte. Infolge eines sprachlichen Versehens lautete die Bestellung jedoch auf eine unsrer gewöhnlichen Maschinen. Nach Entdeckung des Mißverständnisses erklärten wir uns bereit, ihm eine neue Maschine zu bauen. Jetzt aber kam die Zeitfrage in Betracht. Die Maschine sollte im August dem Kaiser in Petersburg vorgeführt werden, und dies war beim Bau einer neuen Maschine unmöglich. Da, in einer fast schlaflosen Nacht, hatte ich den unglückseligsten Gedanken meines technischen Lebens. Ich schlug vor, Miliutine die Versuchsmaschine so lange zu leihen, bis die neue in Petersburg eintreffen konnte.

Mittlerweile hatte jedoch Aveling von der Sache gehört und erbot sich, eine seiner gewöhnlichen Maschinen auszusenden, um unsern Versuchen Konkurrenz zu machen. Als ich von Samara her ankam, war diese Maschine bereits zehn Tage lang im Gang, und ihr Agent, ein kleiner Pariser Jude, der vortrefflich Russisch spricht, hatte sich bereits mit Generälen und andern Offizieren, die mit der Sache zu tun hatten, ins beste Einvernehmen gesetzt.

Meine Maschine wurde unter Beihilfe eines Oberst Demenowitsch mit einer für Rußland außerordentlichen Geschwindigkeit von Kronstadt nach einer Fabrik in Petersburg verbracht. Am Abend vorher entdeckte ich auch an einer Straßenecke durch einen reinen Zufall den Arbeiter, den sie mir aus England geschickt hatten und der seit vierundzwanzig Stunden ruhig der Hoffnung lebte, daß ich ihn schon irgendwo finden werde. Es war ein alter, halb gichtbrüchiger Kerl, ungefähr der untauglichste Mensch, den man für das bevorstehende Geschäft in Leeds auftreiben konnte. Die Wolken fingen an, sich zu sammeln. Nachmittags drei war die Maschine in unsern Händen; nachts zwölf war sie montiert; morgens vier Uhr dampften wir bereits zum Fabriktor hinaus.

Es ging nach Krasnoje Selo, dem großen Lager der russischen Garde, ungefähr zehn Stunden von unserm Landungsplatz entfernt, mein Oberst Demenowitsch und ein Hauptmann Gorlitzin voraus, ich mit der Maschine oder hinter ihr her. Zuerst durch die ganze Länge der Stadt über ihr grausiges Pflaster, dann meilenweit entlang schnurgerader, von Villen und Gärten begrenzter Straßen. Um zehn Uhr hatten wir den ersten Unfall, indem die Maschine mit dem kleinen Brückchen eines Straßenübergangs einbrach. Sie kam jedoch infolge ihrer großen Räder flott aus der Versenkung, und der entrüstete Eigentümer der Brücke wurde von dem Oberst handgreiflich zum Schweigen gebracht. Aber gegen zwei Uhr versagte unsre Speisepumpe mehrmals in unerklärlicher Weise. Zum Glück waren wir nur noch eine Stunde vom Ziel, das mit Mühe und Not erreicht wurde.

Hier sollte ich nun eigentlich eine lange Abhandlung über Speisepumpen einschalten, will es aber kurz machen: Speisepumpen haben gelegentlich die Wunderlichkeit, zu versagen, wozu sie etliche zwanzig Gründe haben. Dauert dies länger, so geht dem Kessel das Wasser aus: die gewöhnlichste Ursache einer Kesselexplosion. Um nun ein großes Unglück zu verhüten, ist an vielen Kesseln die Vorrichtung getroffen, daß zuvor ein kleines eintritt. Ein schlau eingesetzter Bleipfropf schmilzt aus, durch das Loch strömt Wasser und Dampf und löscht das Feuer aus. Alles weitere Arbeiten ist dann auf zwei bis drei Stunden unmöglich. Wenn deshalb das Wasser im Kessel so nieder wird, daß der Bleipfropf in Gefahr kommt, so tut man besser, das Feuer selbst auszulöschen und den Kessel von Hand zu füllen. Jedoch verursacht auch dies einen Aufenthalt von mindestens einer Stunde.

Schon diese ersten Schwierigkeiten mit der Pumpe machten natürlich einen höchst unangenehmen Eindruck. Leider waren sie aber nur der milde Anfang von dem, was noch kommen sollte.

Mittags war große Revue vor dem Großfürsten Nikolajewitsch. Die beiden Maschinen mußten ungefähr drei Meilen weit auf eine Hochebene geführt werden, wo die Artillerie sie erwartete. Unterwegs fing meine Pumpe aufs neue an, sich zeitweise tot zu stellen. An Ort und Stelle angekommen, hörte sie ganz auf zu arbeiten. Avelings Maschine sollte, zum Glück für mich, den Anfang machen und zog mit einem halben Dutzend Kanonen unter Musikbegleitung feierlich davon.

Mittlerweile machte ich verzweifelte Versuche, meine Pumpe zu beleben. Es half alles nichts. Nach einer Stunde blieb nichts übrig, als zu erklären, daß wir nicht imstande seien zu fahren. Namenloses Entsetzen der Offiziere. »Mais le général le veut! Il faut! Il faut!« schrie mein Hauptmann fortwährend. Die Pumpe war aber und blieb eigensinniger als der General. Glücklicherweise warf Aveling seinen Zug mit Kanonen um, so daß der Großfürst wegfuhr, ohne etwas von mir sehen zu wollen. Das Gräßliche war jedoch überall bekannt. Fowlers Maschine hatte sich in Gegenwart des Großfürsten geweigert, zu gehen. Die Generale sahen düster drein; die freundlichsten hatten kaum noch einen mitleidigen Blick für mich. Wir füllten unsern Kessel schwermütig mit frischem Wasser und machten wieder Feuer. Jetzt plötzlich saugte die Pumpe geräuschvoll, wie wenn nichts geschehen wäre, und spät abends kamen wir wohlbehalten in unser Quartier zurück.

Noch am Abend fuhr ich nach Petersburg, um Kautschukplatten zu kaufen, mit denen ich einen neuen Versuch machen wollte, die Pumpe in Ordnung zu bringen. Ich mußte natürlich annehmen, was ich fand, und war morgens in aller Frühe wieder an Ort und Stelle, um an dem Kranken zu doktern. Die Sache hatte an sich nichts auf sich, wenn man nur ein paar Tage Zeit gehabt hätte, alles gründlich zu untersuchen. Aber am nächsten Tag sollte vor dem Kriegsminister manövriert werden.

Es war ein unebenes, hügeliges Terrain, somit recht geeignet, meine großen Räder zu zeigen. Wir waren heute voran. Aber bums! Mitten im flottesten Lauf reißt der Kautschuk, den ich gestern gekauft hatte. Eine Röhrenverbindung ist geplatzt; die Maschine ist in eine Dampfwolke gehüllt. Neuer vulkanischer Ausbruch allgemeiner Entrüstung. Mitten im Dampf, mit verbrühten Händen, machen mein Heizer und ich eine neue Kautschukscheibe zurecht und verschrauben die Rohrverbindung. Ich habe in meinem Leben nichts derart so schnell gemacht oder machen sehen.

Mittlerweile hatte Aveling unsern Zug Kanonen genommen und blieb damit in einem Loch stecken. Ich bat jetzt um die Gnade, durch dasselbe Loch fahren zu dürfen, was glänzend gelang. Aber was half's? Fowlers Maschinen brechen vor dem Kriegsminister Röhrenverbindungen und weigern sich, vor dem Großfürsten zu pumpen. Ich glaubte, ungefähr die tiefste Tiefe des Elends erreicht zu haben. Darin lag ein gewisser Trost.

Am nächsten Tag waren wir nach Kolpino beordert. Dort war ein großes Lager und der Mittelpunkt der Herbstmanöver, die in der folgenden Woche stattfinden sollten. Die Abfahrt war auf vier Uhr morgens bestimmt. Ich fand ein elendes Winkelchen in einer Kneipe des Dorfs Krasnoje und saß schon um drei Uhr in der Morgendämmerung auf der Maschine, meine Leute erwartend. Sie kamen eine Stunde zu spät. Mein Heizer hatte Zahnweh. Die Anstrengungen waren dem gichtbrüchigen Mann zu groß geworden. Die Folge war, daß wir eine Stunde hinter Aveling drein erst abfuhren. Der Weg führte zunächst nach Zarskoje Selo an den prächtigen Gärten des Kaisers vorbei. In Zarskoje brachen wir eine kaiserliche Brücke. Dabei wurde ein Saugrohr zerdrückt, mit dem man aus den Pfützen und Brunnen am Weg Wasser schöpft, so daß dies nun von Hand geschehen mußte. Gleich darauf verloren wir auch die Richtung, was uns einen Umweg von zwei Stunden kostete, bis wir nachmittags um zwei Uhr nach einem fast zehnstündigen Marsch in Kolpino Avelings Maschine erreichten, die uns dort erwarten mußte. Das alles geschah mit völlig leerem Magen, in tropischer Hitze und nicht mit leichtem Herzen.

Um vier Uhr kam das Offizierskorps, und nun wurde die Sache wirklich aufregend. Das Lager, unser Bestimmungsort, war eine Stunde von Kolpino entfernt; der Weg dorthin führte über drei tiefe Schluchten, von denen die dritte von einer langen hölzernen Brücke überspannt wird, die höchst gefährlich aussieht und es auch wirklich ist. Mindestens eine Stunde lang standen wir davor, beratend, was zu tun sei. Avelings Leute weigerten sich, ihre Maschine darüber zu nehmen. Meine Maschine war zwei Tonnen schwerer. Schließlich befahl General Annenkoff einem der Soldaten, die bereits gelernt hatten, die Maschine leidlich zu behandeln, über die Brücke zu fahren. »Ich kann nur einmal sterben,« sagte der Mann zu meinem Hauptmann und fuhr darauf los. Wir alle standen unten im Tal. Die Russen, bis zum General hinauf, bekreuzten sich. Avelings Agent zitterte an Leib und Seele. Aber das krachende Gerüste hielt stand; nach zehn Minuten war die Maschine auf der andern Seite.

Zuvor schon hatte ich vorgeschlagen, unten durch die Schlucht zu fahren. Aveling hatte sich dagegen verwahrt. Es wäre für seine Maschine unmöglich gewesen. Man stand vor zwei steilen, weglosen Abhängen, die mit dichtem Buschwerk bedeckt waren. General Annenkoff, der die Angst mit der Brücke nicht zum zweitenmal ausstehen wollte, hieß mich, meinem Vorschlag gemäß, diesen weglosen Weg zu nehmen. Es sah wundervoll aus, aber es gelang vollständig. Der erste kleine Wendepunkt in meinem Elend.

Der folgende Tag war ein sehr notwendiger Sonn- und Ruhetag. Dann kamen die Manöver und heuschreckenartig die Soldaten. Wir mußten fünf Tage lang fortwährend unter Dampf stehen, bald da-, bald dorthin beordert, ohne etwas Vernünftiges zu tun; Befehle und Gegenbefehle, keine leibliche Ruhe. Für mich kam das nagende Bewußtsein der vorigen Woche hinzu und die Unmöglichkeit, die Scharte auszuwetzen. Im Lager war natürlich kein Platz für einen fremdländischen Zivilisten. Nach Petersburg konnte ich nicht jede Nacht kommen. Ein paar Nächte schlief ich in einer Scheuer unter russischen Soldaten; es war keine angenehme, wenn auch eine recht lebendige Nachbarschaft.

Am vierten Tag, mit dem Frühzug um neun, wollte ich auf zwei Stunden nach Petersburg, nur um Kleider zu wechseln. Um zwölf war ich wieder im Lager. Gerade in diesen drei Stunden hatte der Kaiser den Befehl gegeben, die Straßenlokomotiven zu zeigen. Wir hatten Dampf; Aveling nicht. Aber Avelings Vertreter wußte die Sache so zu drehen, daß man auf ihn wartete. Die Geschichte war natürlich eine bloße kurze Form; aber für das Volk hier alles in allem.

»Sollt' ich da nicht weinen?«

Jetzt aber kam wieder ein wenig Sonnenschein. Vom folgenden Tag an gab es wirkliche Arbeit. Wir hatten die Kanonen aus den verschiedenen Erdwerken zusammenzuholen und in ihr Winterquartier zu führen. Da zeigte sich unsre Maschine plötzlich in ihrem wahren Licht. Wir konnten an Stellen kommen, die bis jetzt keiner Straßenlokomotive zugänglich gewesen waren; wir holten doppelte Lasten aus den schwierigsten Lagen. Aveling, nach dem ersten Tag dieser Arbeit, wußte seine Maschine klugerweise nach Petersburg zurückzuziehen. Uns ließ man in drei Tagen die Aufgabe zu Ende führen.

Keine Arbeit ist ganz verloren. Soeben höre ich, daß trotz aller Unfälle die Bestellung auf zwei Maschinen der neuen Form gesichert ist; Aveling allerdings hat sechs bekommen. Das schadet nichts. Jetzt erst kann sich zeigen, wer schließlich besser läuft.


 << zurück weiter >>