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4. Der Reiher

Auf langen Beinen ging einst – wo, weiß ich nicht mehr –
Mit langem Schnabel an noch längrem Hals, einher
An Ufers Rand entlang ein Reiher.
Es war ein schöner Tag, das Wasser klar und hell,
Und Vetter Karpfen schwamm, fortplätschernd Well' auf Well',
Umher mit Vetter Hecht im Weiher.
Der Reiher hätte leicht dort einen Raub vollführt:
Ans Ufer kamen all', er braucht nur zuzuschnappen;
Doch spart er lieber sich die Happen,
Bis er ein wenig Hunger spürt –
Pünktlich lebt er und speist nur zu bestimmter Stunde.
Nach ein'ger Zeit kam ihm der Hunger, und als nah
Er an das Ufer hintrat, sah
Er Schleie, die gerad' auftauchten aus dem Grunde.
Die Speise lockt ihn nicht, er harrt auf bessern Fisch;
Sein Gaumen war so wählerisch
Wie von weiland Horazens Ratte.
»Ich, Schleie?« sagt er »Ich, ein Reiher, diese matte
Elende Kost! Wofür hält man mich?« Da verschwand
Der Schleie Schar, es kam der Gründling an den Strand.
»Gründling'! Ist das ein Mahl wohl für des Reihers Stand?
Den Schnabel öffn' ich nicht, bei Gott, für solche Beute!«
Er tat's wohlfeiler noch: als wären sie gebannt,
Kam nicht ein Fischlein mehr ans Land.
Jetzt packt der Hunger ihn – ach, wie er da sich freute,
Glücklich, daß er ein Schneckchen fand!

Laßt uns nicht gar zu peinlich wählen;
Der sich zu schicken weiß, dem wird's so leicht nicht fehlen.
Denkt, daß, wer alles will, leicht in Verlust gerät;
Drum sorget, daß ihr nichts verschmäht,
Sobald nur ungefähr ihr eure Rechnung findet.
Das merke mancher sich! Zu Reihern sprech' ich nicht;
'ne andre Märe sei euch Menschen jetzt verkündet:
Ihr seht, von euch nehm' ich den Stoff zu dem Gedicht.


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