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Sechstes Buch

1. Der Hirt und der Löwe

Die Fabeln sind nicht das, was sie wohl scheinen wollen:
Es spielt manch einfach Tier in ihnen große Rollen.
Die nüchterne Moral mag oft langweilig sein,
Mit der Erzählung prägt die Lehre leicht sich ein.
Dergleichen Dichtung soll belehren und behagen;
Erzählen, nur um zu erzählen, will nichts sagen.
Drum sucht' und fand so manch berühmter Mann zumeist
In dieser Dichtungsart Erheitrung für den Geist.
Stets mieden sie den Schwulst und allzu große Länge,
Nie trifft bei ihnen man unnützes Wortgepränge.
Phädrus schrieb so gedrängt, daß mancher ihn darob
Sogar getadelt; fast noch knapper ist Äsop.
Ein andrer Grieche sucht mehr noch als er die Würze
Des Witzes in lakon'scher Kürze;
Denn sein Gedicht beschränkt stets auf vier Verse sich –
Ob gut, ob schlecht, entscheid' ein Klügerer als ich.
Sehn wir Äsop und ihn als gleichen Stoffes Träger:
Der führt 'nen Hirten vor, und jener einen Jäger.
Im Vorgang folg' ich ganz getreulich diesen zwei'n,
Beiläufig nur flecht' ich manch kleinen Zug noch ein.
Vernehmt nun, wie Äsop es ungefähr erzählte:

Ein Hirt bemerkt, daß von den Schafen manches fehlte,
Und hätt' den Räuber gern ertappt um jeden Preis.
In einer Höhle birgt er sich und legt im Kreis
Umher Wolfsfallen, da den Wolf er in Verdacht hat.
»Du Fürst der Götter in der Höh'«
Ruft er »o schaff', daß noch, eh' ich von hinnen geh',
Der Schelm sich fange hier, der diesen Raub gemacht hat!
Gewähre diese Freude mir;
Von zwanzig Kälbern wähl' ich hier
Das Fett'ste, dir es zu verehren.«
Da aus der Höhle tritt ein Leu von mächt'gem Wuchs;
Halb tot vor Schrecken spricht der Hirt, er duckt sich flugs:
»Daß doch die Menschen nie verstehn, was sie begehren!
Um in den Fallen hier den Räuber, der schon halb
Die Herde mir zerstört, bald abzufangen – siehe,
O Fürst der Götter, Zeus – versprach ich dir ein Kalb;
Ich opfre dir ein Rind, schaffst du, daß er entfliehe.«

So hat's der erste uns erzählt; nun gebet acht,
Wie's ihm der andre nachgemacht.


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