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6. Die Alte und die beiden Mägde

Ein altes Weib ließ von zwei Mägden sich bedienen,
Die spannen gar so gut, daß im Vergleich mit ihnen
Das Parzenkleeblatt nichts als eitel Wirrwarr spann.
Das dringendste Geschäft, auf das die Alte sann,
War, neue Arbeit stets den Mägden zuzuteilen.
Wann den goldlock'gen Gott Tethys mahnt aufzustehn,
Schnurrte das Rädchen schon, mußt' sich die Spindel drehn,
Rechts, links und – hast du nicht gesehn!
Stets ohne Rast und ohne Weilen.
Sowie Aurora nur bestieg ihr Viergespann,
Fing ein verwünschter Hahn pünktlich zu krähen an;
Und alsobald warf sich die noch verwünscht're Alte
In einen Unterrock, voll Schmutz jedwede Falte,
Steckt eine Lampe an und eilt ans Bett sogleich,
Wo tief in festem Schlaf, so wonnig, warm und weich,
Die beiden armen Mägde lagen.
Die öffnet halb ein Aug', den Arm streckt jene aus,
Und alle zwei voll Mißbehagen
Flüstern: »Verdammter Hahn! Dir mach' ich den Garaus!«
Gesagt, getan: dem Vieh, von dem sie so gelitten,
Dem Ruhestörer ward die Gurgel abgeschnitten.
Doch nichts war unsrem Paar geholfen durch den Mord;
Im Gegenteil: kaum legt sich's nieder, als sofort
Die Alte schon aus Furcht, daß sie die Zeit versäume,
Gleich einem Kobold tobt durch alle Wohnungsräume.

Also wird's in der Regel sein:
Uns drückt ein Leid, man glaubt es endlich überwunden
Und – fällt viel tiefer noch hinein,
Wie jenes Paar es mag bekunden.
Die Alte statt des Hahns! In die Scylla geriet,
Wer die Charybdis mied.


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