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11. Der Mensch und sein Ebenbild

Für den Herzog de la Rochefoucauld

Es war einmal ein Mann, der, in sich selbst verliebt,
Sich für den schönsten hielt, den alle Lande trügen;
Den Spiegel scheltend, daß entstellt sein Bild er gibt,
Fand er sein Glück darin, sich selber zu belügen.
Um ihn zu heilen, sorgt ein günstiges Geschick,
Daß stets er, wo auch weilt sein Blick,

Der Damen stummen und geheimen Rat muß schauen:
Spiegel in Stub' und Saal, Spiegel ob nah ob fern,
Spiegel in Taschen feiner Herrn,
Spiegel im Gürtel schöner Frauen.
Was tut unser Narziß? Er tut sich selbst in Bann
Und birgt am stillsten Ort sich, den er finden kann,
Wohin kein Spiegel wirft sein trügerisch Gebilde.
Doch durch der Einsamkeit verlassenstes Gefilde
Rieselt ein klarer Silberbach.
Er schaut sich selbst darin, und zürnend ruft er: »Ach,
Ein eitel Trugbild ist's, das mir den Ort verleidet!«
Er gibt sich alle Müh', ihm aus dem Weg zu gehn;
Allein der Bach ist gar so schön,
Daß er nur ungern von ihm scheidet.

Was die Moral der Fabel sei?
Zu allen red' ich; das Sichselbstbetrügen,
Ein Übel ist's, von dem kein Sterblicher ganz frei:
Dein Herz, es ist der Narr, geneigt sich zu belügen;
Der Spiegel, den als falsch zu schelten wir geneigt,
Des Nächsten Torheit ist's, die wir an uns vermissen.
Der Bach, der unser Bild uns zeigt,
Du kennst ihn wohl, man nennt ihn – das Gewissen.


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