Christoph von Schmid
190 kleine Erzählungen für die Jugend
Christoph von Schmid

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164. Die Bettlerin

Zur Zeit der Teuerung kam an einem rauhen, kalten Wintertage eine unbekannte, arme Frau in das Dorf und bat flehentlich um Almosen. Ihre Kleidung war reinlich, aber sehr abgetragen und vielfach geflickt. Ihren Kopf hatte sie, da es heftig schneite und wehte, mit einem Tuche dicht umhüllt. In der rechten Hand führte sie einen langen Stab; am linken Arme trug sie einen Korb.

Aus den meisten Häusern wurden ihr nur geringe Gaben zum Fenster heraus gereicht; von einigen reichen Leuten wurde sie mit unfreundlichen Worten abgewiesen; nur ein armer Bauer rief sie herein in die warme Stube, und die Bäurin, die eben einen Kuchen gebacken hatte, gab ihr davon ein schönes, großes Stück. Am folgenden Tage wurden ganz unerwartet und zur allgemeinen Verwunderung alle die Leute, bei denen die Unbekannte gebettelt hatte, in das Schloß zum Abendessen eingeladen. Als sie in den Speisesaal traten, erblickten sie ein kleines Tischchen voll köstlicher Speisen, und eine große Tafel mit vielen Tellern, auf denen hie und da ein Stückchen verschimmeltes Brot, ein paar Erdäpfel, oder eine Handvoll Kleie lag, auf einigen aber gar nichts zu sehen war. Die Frau des Schlosses aber sprach: Ich war jene verkleidete Bettlerin, und wollte bei dieser Zeit, wo es den Armen so hart geht, eure Wohltätigkeit auf die Probe stellen. Diese zwei armen Leute hier bewirteten mich, so gut sie konnten; sie speisen deshalb jetzt mit mir, und ich werde ihnen ein Jahrgeld auswerfen. Ihr andern aber nehmt mit den Gaben vorlieb, die ihr mir gereicht habt und hier auf den Tellern erblickt. Dabei bedenkt – daß man euch einmal in jener Welt auch so auftischen werde. – Diese Geschichte hat sich in England zugetragen, und die Frau hieß Lady Grey.

Wie man die Aussaat hier bestellt,
So erntet man in jener Welt.


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