Christoph von Schmid
190 kleine Erzählungen für die Jugend
Christoph von Schmid

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6. Die Maiblümchen

Die kleine Rosine, die Tochter eines armen Taglöhners, war krank; Lotte, die Tochter des Amtmannes, brachte ihr, weil das kranke Kind sonst nichts genießen konnte, täglich ein Schüsselchen voll Suppe. Als Rosine wieder gesund war, sagte sie: Das liebe Fräulein hat mir in meiner Krankheit viel Gutes getan. Sie selbst nahm sich immer die Mühe, mir die Suppe zu bringen. Möchte mich doch der liebe Gott instandsetzen, ihr einen recht großen Dienst zu erweisen. Ach, daß ich ihr nur eine kleine Freude machen könnte! Sie hörte, daß Lotte die Maiblümchen ungemein gern habe. Sie ging daher vom ersten Mai an fast täglich in den Wald, um für Lotte das erste Sträußchen von den lieblichen Blümchen zu pflücken. Nach langem Suchen erblickte sie endlich tief im Walde, im Schatten einer alten Eiche, eine Menge Maiblümchen. Sie pflückte davon, setzte sich unter den Eichbaum und band die schönen grünen Blätter und die lieblichen weißen Blütenglöcklein in zierliche Sträußchen. Da hörte sie in dem nahen Dickicht zwei Räuber miteinander reden. – Du, sagte der eine, jetzt können wir uns an dem Amtmanne rächen, der meinen Bruder in das Zuchthaus gebracht hat. Sieh, da habe ich den Schlüssel zu der Tür des Amtshauses, den die dumme Magd an der Haustür stecken ließ. – Gut, sprach der andere; wir wollen heute nacht den Amtmann mit Weib und Rind ermorden und dann die volle Amtskasse ausleeren. Rosine schlich sich mit ihren Maiblümchen erschrocken davon, brachte sie Lotte und erzählte, was die Räuber gesagt hatten. Der Amtmann bestellte heimlich einige bewaffnete Männer und wachte mit ihnen in dem Hausgange. Um Mitternacht kamen die Räuber wirklich zur Tür herein, wurden gefangen, und in der Folge für ihre bösen Taten bestraft. Der Amtmann aber sagte zu seiner Tochter: Liebe Lotte, deine Wohltätigkeit hat über unser Haus einen großen Segen gebracht. Du hast die arme Rosine mit ein wenig Suppe gespeiset; sie aber hat unter Gottes Leitung uns allen das Leben gerettet.

Teil mit dem hungrigen dein Stücklein Brot,
Er rettet dich vielleicht aus größerer Not.


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