Christoph von Schmid
190 kleine Erzählungen für die Jugend
Christoph von Schmid

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128. Das neue Kleid

Frau von Thalheim ließ ihrer Tochter auf das Weihnachtsfest ein neues Kleid von himmelblauem Atlas machen. Der Schneider brachte es noch spät am Weihnachtsabende. Fräulein Apollonie zog das Kleid sogleich an, um zu sehen, ob es recht gemacht sei. Es war zu ihrer großen Freude wie angegossen. Die Mutter sprach, indem sie das Geld zählte, zu Apollonie: Es ist heute abend sehr kalt! Bringe dem geschickten Kleidermacher ein Gläschen von unserem guten Likör. Zünde aber ein Licht an; denn es ist bereits ziemlich dunkel, zumal draußen im Kämmerchen. – Apollonie ging, brachte eine gläserne Flasche, reichte dem Meister ein gefülltes Gläschen, und blieb voll Freundlichkeit vor ihm stehen, um ihm nochmal einzuschenken. Der Mann nahm den Mund ziemlich voll – sprudelte aber erschrocken sogleich alles wieder heraus. Apollonie war zu bequem gewesen, ein Licht anzuzünden, und hatte anstatt der Flasche mit dem dunkelroten Getränke die Tintenflasche erwischt. Ihr schönes, himmelblaues Kleid war über und über so dicht mit großen und kleinen Tintenflecken besät, daß es gar nicht mehr zu gebrauchen war. Das arme Mädchen weinte heiße Tränen; die Mutter aber sprach: So geht's, wenn man nicht gehorsam ist; du kannst nun morgen in deinem alten Kleide zur Kirche gehen, und bevor ein Jahr vorüber ist, lasse ich dir kein neues mehr machen. Der Vater, der eben zur Tür herein kam, machte über die Begebenheit noch eine besondere Bemerkung. Der Tor, sagte er, der die Finsternis dem Lichte und die Dummheit dem Verstande vorzieht, mag hier die Richtigkeit des Spruches erkennen:

Fehlt es im Haus und Kopf am Lichte,
So gibt's manch garstige Geschichte.


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