Christoph von Schmid
190 kleine Erzählungen für die Jugend
Christoph von Schmid

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126. Der Spiegel

Mathilde war sehr jähzornig. Die Mutter stellte ihr oft nachdrücklich vor, wie sündlich, abscheulich und verderblich der Zorn sei und ermahnte sie zur Sanftmut. Allein Mathilde besserte sich nicht. Einmal saß sie an ihrem Nähtischlein, auf dem ein zierliches Geschirr voll Blumen stand. Ihr kleines Brüderchen stieß von ungefähr das Geschirr herab, daß es in Stücke zerbrach. Mathilde kam vor Zorn fast außer sich. Ihre Augen funkelten, die Stirnadern schwollen ihr auf und ihr ganzes Gesicht war entstellt. Da hielt ihr die Mutter geschwind einen Spiegel vor das Gesicht. Mathilde erschrak über ihre eigene Gestalt. Der Zorn verging ihr und sie fing an zu weinen. – Siehst du nun, sprach die Mutter, was es häßliches um den Zorn ist? Wenn du ihn zur Gewohnheit werden lassest, so bleiben dir nach und nach diese häßlichen Mienen, und alle Anmut verschwindet aus deinem Angesicht. – Mathilde nahm sich dieses zu Herzen und gab sich alle Mühe, ihren Zorn zu überwinden. Sie wurde sehr sanftmütig, und die Sanftmut verschönerte noch ihr Angesicht.

Die Mutter sagte aber öfters: wie es mit dem Zorn und der Sanftmut ist, so ist es mit allen Lastern und Tugenden.

Das Antlitz ist der Seele Bild;
Das Laster macht es roh und wild,
Die Tugend lieblich, hold und mild.


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