Christoph von Schmid
190 kleine Erzählungen für die Jugend
Christoph von Schmid

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37. Die große Buche

Einmal in uralter Zeit erschienen zwei Jünglinge, Edmund und Oswald, vor Gericht. Edmund sagte zum Richter: Als ich vor drei Jahren auf Reisen ging, gab ich diesem Oswald, den ich für meinen besten Freund hielt, einen kostbaren Ring mit Edelsteinen in Verwahrung: allein jetzt will er mir den Ring nicht mehr zurückgeben. – Oswald legte seine Hand auf die Brust und rief: Ich beteure bei meiner Ehre, daß mir von dem Ringe nicht das geringste bekannt ist. Mein Freund Edmund muß in der Tat nicht recht bei Sinnen sein. – Der Richter sprach: Edmund, kann es dir jemand bezeugen, daß du ihm den Ring übergeben hast? – Edmund sagte: Leider war niemand dabei, als ein alter, sehr großer Buchbaum im Felde, unter dem wir ausruhten und voneinander Abschied nahmen. – Oswald sagte: Ich bin bereit, einen Eid darauf abzulegen, daß ich von dem Baume so wenig weiß, als von dem Ring. – Der Richter sprach: Edmund, gehe hin und bringe mir einen Zweig von dem Baume. Ich will ihn sehen. Du aber, Oswald, warte indessen hier, bis Edmund zurück kommt. Edmund ging. Ueber eine kleine Weile sprach der Richter: wo doch Edmund so lange bleiben mag? Oswald, öffne einmal das Fenster und sieh, ob er noch nicht kommt. – Oswald sagte: O Herr, so bald kann er noch nicht zurückkommen. Der Baum ist über eine Stunde weit von hier entfernt. – Da rief der Richter: O du gottloser Lügner, der du deine Lüge vor Gott, dem höchsten Richter, der in alle Herzen blickt, beschwören wolltest! Du weißt um den Ring ebensogut als um den Baum. – Oswald erschrak und zitterte. Er mußte den Ring herausgeben und wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Dort, sagte der Richter, wirst du Zeit finden, die große Wahrheit zu bedenken:

Es kommt dereinst der Tag der Schrecken,
Der jede Lüge wird entdecken.


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