Christoph von Schmid
190 kleine Erzählungen für die Jugend
Christoph von Schmid

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67. Die Kuhschelle

1.

Wendelin, ein Bauernknabe, hütete in dem Walde die Kühe, Alle waren mit Schellen versehen; die schönste Kuh aber hatte die schönste Schelle. Da kam ein fremder Mann durch den Wald her und sagte: Das ist eine prächtige Schelle! Was hat sie wohl gekostet? – Einen Taler! sagte Wendelin. – Nicht mehr? rief der fremde Mann; ich gebe dir sogleich zwei Taler dafür, Wendelin gab dem Manne die Schelle und schob die zwei Taler mit Freuden in die Tasche. Allein da die Kuh keine Schelle mehr hatte, hörte Wendelin in dem dichten Walde nicht mehr, wo sie war. Die Kuh entfernte sich von den übrigen Kühen, und der fremde Mann, der sich im Gebüsche versteckt hielt, ergriff sie beim Horn und führte sie heimlich davon. Der arme Wendelin aber sah erst jetzt ein, daß der Schelm ihn betrogen habe.

Wer dir zu viel Gewinn verspricht,
Meint es nicht redlich; trau ihm nicht.

2.

Wendelin kam mit verweinten Augen nach Hause und erzählte die Geschichte. Ach, sagte er, das hätte ich nicht gedacht, daß der Dieb mir nur deshalb die Schelle so gut bezahle, um die Kuh zu bekommen! Der Vater aber sprach: Wie der Schelm dich betrogen hat, so will die Sündenlust uns alle betrügen. Sie bringt uns anfangs einen kleinen Gewinn, aber am Ende großen Verlust. Läßt man ihr nur einen Finger, so bemächtigt sie sich bald der ganzen Hand. Merke dir daher den Spruch:

Der Sünde trau in keinem Teil,
Sie raubt dir sonst dein ganzes Heil.

3.

Die Mutter sprach: Aber, lieber Wendelin, dachtest du denn nicht daran, wozu der alte Brauch diene, daß man der Kuh eine Schelle anhänge? – Ach, sagte Wendelin, das Geld hatte mich ganz verblendet. Ich dachte nur: Da kann ich mit schönster Art einen Taler gewinnen. Die Schelle ist nur eine unnötige Zierde – die Kuh gibt dadurch nicht mehr Milch. Erst als die Kuh fort war, fiel mir's ein, wozu die Schelle diene. – So geht es leichtsinnigen und leidenschaftlichen Menschen, sprach die Mutter. Sie verwerfen manchen alten Gebrauch als unnötig, allein in der Folge werden sie durch Schaden klug, und sehen ein, daß solche Gebräuche ihren guten Grund hatten.

Wie gut die alten Bräuche waren,
Wird, wer sie aufgibt, bald erfahren.


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