Christoph von Schmid
190 kleine Erzählungen für die Jugend
Christoph von Schmid

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115. Der Diamantring

Der Kaufmann William reiste über das Meer in einen fernen Weltteil, gelangte dort durch Fleiß und Geschicklichkeit zu einem großen Vermögen und kehrte nach vielen Jahren in sein Vaterland zurück. – Als das Schiff landete, hörte er, seine Anverwandten seien eben bei einer fröhlichen Abendmahlzeit auf einem nahen Landhause versammelt. Er eilte sogleich dahin und nahm sich in der Freude seines Herzens nicht einmal Zeit, anstatt seines grauen Bockes, der von der Seereise ziemlich abgetragen war, ein besseres Kleid anzuziehen. Allein, da er in den hell erleuchteten Saal trat, zeigten seine Herren Vettern und Frau Basen wenig Freude, ihn wieder zu sehen; denn wegen seines dürftigen Anzuges meinten sie, er sei arm zurückgekommen. – Ein junger Mohr, den er mitgebracht hatte, ward über die Anverwandten sehr aufgebracht und sagte: Das sind schlechte Menschen, die ihren Freund nach so langer Zeit nicht einmal freundlich grüßen. Warte nur, sagte der Kaufmann leise zu ihm, sie werden bald andere Gesichter machen. Er steckte einen Ring, den er bei sich trug, an den Finger – und siehe, da erheiterten sich schnell alle Gesichter, und jeder drängte sich zu dem lieben Herrn Vetter William. Der eine drückte ihm die Hand, und der andere umarmte ihn; alle stritten sich um die Ehre, wer ihn in sein Haus aufnehmen und ihn bewirten dürfe. – Hat der Ring die Kraft, die Leute zu bezaubern? fragte der erstaunte Schwarze.

– O nein, sagte William; an dem funkelnden Diamantringe, der seine tausend Taler wert ist, sehen sie bloß, daß ich reich bin, und der Reichtum geht ihnen über alles. – O ihr verblendeten Menschen! rief jetzt der Mohr, so hat euch denn nicht der Ring, sondern die Geldgier bezaubert. Kann man denn auch gelbes Erz und durchsichtige Kiesel höher schätzen, als einen so edlen Mann, wie mein Herr ist? – wahrlich:

Bei Narren nur kann Gold und Edelstein
Beliebter als die Tugend sein!


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