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Nachwort

 

Max Dauthendeys »Die geflügelte Erde«

Was nützt die Lektüre älterer Reiseberichte in einer sich rasant verändernden Welt?

Mindestens die Dichter unter den Reisenden, begabt mit einem etwas anderen Blick auf die Welt, können Ansichten entrollen, die uns noch heute berühren, interessieren, gar verblüffen, ganz abgesehen vom Informationswert der Bilder vergangener Zeiten aus fernen Welten – wieviel hat sich geändert, welche Vorboten der Änderungen sind schon sichtbar?

So ist dem heutigen Bewusstsein, das Globalisierung mit der eigenen Zeit verknüpft, fremd, welch ein Welttourismus längst vor 100 Jahren in Betrieb war. Dauthendey hielt sich selbst zu Füßen des Himalaja auf und notierte:

Als ich am Abend beim Kaminbrand Kartentisch bei Tisch
Im Hotel, auch hier im Himalaja, aufgeschlagen fand,
Und Herren im Frack und Damen im Abendkleid, Brillant bei Brillant im Haar,
Über die Teppiche zu der Lampen Schar, zum Kamin und zu den Spieltischen kamen,
Da ging ich auf den Bergwegen zum Schneeregen hin, wo Wolken, Mondschein und Schnee in wogender Bewegung waren.

Der Tourismus hat die Umgebung des Himalaja bereits fest im Griff, so sehr, dass der weltreisende Autor (lyrischer Sprecher und biographisches Ich koinzidieren in diesem Text) sich geradezu auf die Flucht begibt. Das unmittelbare Erlebnis der Fremde ist längst nicht mehr zu haben, eine Beobachtung, die durch andere dieses Werkes mannigfach bestätigt wird.

Beeindruckend ist z. B. die Schilderung von San Francisco, das erst sechs Wochen vor der Ankunft des Autors durch ein Erdbeben in Schutt und Asche gelegt worden ist. Oder die Besuche in den asiatischen Theaterstätten, der erschrockene Blick in die brodelnde technisierte Wolkenkratzerwelt New Yorks: Solche und manch andere Einblicke vermittelt das auch materiell lesenswerte vorliegende Buch.

 

Max Dauthendeys »Die geflügelte Erde« (1910) ist die Frucht einer Reise, die 1905/06 mehrere Monate über Ägypten nach Indien, China, Japan und in die USA führte; der Dichter reiste allein, ohne seine Geliebte (seine Frau), die ihn im Geist freilich beständig begleitete. Die Liebe zu ihr, die Liebe zu einer Frau überhaupt, ist das Leitmotiv dieses ungewöhnlichen Buches; alles fremde Verhalten in den bereisten Ländern wird immer wieder auf diesen Punkt bezogen.

Ein Auszug aus »Der Affentempel« verdeutlicht dies:

Auf allen Seiten um das Heiligtum stehn groß und klein aus Stein die nassen Lingams, wie in Gassen,
Am Wege um den Tempelschrein. Ein indisch Weib kam da allein.
Sie schob den Schleier von den Hüften, nahm nackt auf einem Lingam Platz ohne Scham
Und lächelte still vor sich hin, und auch der kahlgeschorne Heidenpriester
Belächelte des unfruchtbaren Weibes tiefgläubigen Sinn.
Die Affen aber tanzten ohne Scham und liefen an die andern Lingam wild heran,
Und mancher übte seine Brunst daran
Das Weib, der Priester sahn es lächelnd, Gebete murmelnd, still mit an.
Dann, als sie beide meinten, das Lingam habe seinen Segen an ihrem Leib getan,
Bezahlte sie mit einem Silberstück den Priestermann und ging
Und sah noch einmal dankerfüllt zurück zu ihrem Lingamstein und kaufte für die Affen Futter ein.
Harmlos und lächelnd pflegen hier die Priester noch tausendjährigen Brauch,
Den Lingamsegen, und hundert Affen tun dasselbe auch.
Es halten alle gleichen Schritt auf dieser Welt, der eine reißt den andern mit in der Bewegung,
Weil Aller sinnliche Erregung die Welt und ihre Fruchtbarkeit im Gange hält.

Der Autor entwickelt große Sympathie für das Lingam, das Symbol für Sinnlichkeit, Lust und Fruchtbarkeit; unter diesem Titel veröffentlichte er auch einen kleinen Novellenband (1909). Zugrunde liegt all seinem Dichten eine durchaus naive hedonistisch-erotische, ein wenig panentheistisch (»Das ganze Weltall ist ein Leib und Blut.«) eingefärbte Weltsicht, die ein Leben ohne Reue, Buße, Sünde ersehnt (und sie teilweise in den exotischen Gesellschaften und Religionen verwirklicht sieht), dies freilich und zum Glück eher im Hintergrund und ohne jede Dogmatik. Explizitere Stellen wie die folgende sind Ausnahmen:

»Der Leib ist nur das Kleid der Lebenszeit«. Stets hat vor dieser Indierweisheit mir gegraut,
Weil sie mit abgelebtem Blick der Lust des Fleisches nicht mehr traut.
Weil sie nicht unbewußt mehr lacht, das Leben wie der Regen farblos und ohne Spiegelbilder macht. –

Ein Hang zum unbestimmt-oberflächlichen Ästhetizismus, wie er ja oft dem Impressionismus überhaupt angekreidet wird, läßt sich hier nicht verleugnen. So wendet der lyrische Sprecher gegen Buddha ein:

Er lebte bloß sich selbst zum Zeitvertreib; doch Glück lebt nur zu Zwein.
Nur beim geliebten Weib, nur in den Armen, die ans Herz dich binden,
Kannst du das wirkliche Nirwana finden.

Einem amerikanischen Bischof, der durch gegenseitiges Verständnis der Religionen friedenstiftend wirken will, entgegnet der lyrische Sprecher:

Wenn alle Völker endlich verstünden, daß in allen Weltteilen Männer und Frauen sich für einander entzünden, und dann ihre Liebe als ihre Gottheit verkünden, –
Diese Einheit aller in Liebesgründen, sie könnte alle Weltvölker mit einer einzigen einfachen Gottheit verbünden,
Mit der Gottheit Menschenherz, um die das ganze Leben kreist, dem Menschenherz, das alles Menschliche ordnet und alles Unmenschliche abweist.
Die Liebe vom Mann zum Weib ist rings um die Erd' eine Einheit, die Liebe ist die einzige Gottheit, die mit ihrer leidenschaftlichen Gebärde die Menschen leben und sterben heißt.

Dass hier wesentliche Momente realer menschlicher Praxis einfach ausgeblendet werden, liegt auf der Hand. Erotik als religiöses Surrogat löst keines der bestehenden Weltprobleme, gestattet freilich bequeme Gefühligkeit. Der Autor hat nicht ganz Unrecht, wenn er sich dem Leibarzt eines japanischen Prinzen vorstellt als »ein deutscher Prinz aus Wolkenkuckucksheim«. Und so ist es nicht verwunderlich, wenn dieser »deutsche Prinz« nach dem Besuch eines japanischen Damenringkampfs irritiert bekanntgibt:

Und ich brauchte viel kölnisches Wasser auf mein Taschentuch, um mich von ihrer Muskel-Inbrunst zu befrein.

Ein kultureller Praxis-Schock für einen, der Weiblichkeit stets nur als holde Eva, nie als herbe Lilith zu erleben liebte. Die Parfümiertheit des gesamten Impressionismus zeigt sich hier von ihrer bedauerlichsten Seite.

Ein kritischer Lichtblick scheint auf in der Wahrnehmung Hawaiis, wie es sich seit der Besitznahme durch die USA befindet:

Jetzt ist der Weiße hier zu Hause, und er erfand statt Blumenketten, die man sich einst am Morgen frisch zur Tagesreise hier um Hals und Körper statt der Kleider wand,
Dem braunen Manne, statt der Blumen, die Perlen nur vom Arbeitsschweiße und drückte ihm des Geldes tote Marke in die Hand.

Der Grundtenor des Berichts, zu dessen besten Stellen jene Passagen gehören, in denen kleine Geschichten erzählt werden, wie z. B. »Die Geschichte der Brüder Juro und Goro und der Kurtisane Tora Gozen«, ist geprägt von der individuellen Beeindruckbarkeit des lyrischen Ichs. Auf dieser subjektiven Basis fußen Beobachtungen, die oft sehr konkret ins Bild gesetzt werden; das ist zugleich – neben der Vielfältigkeit und Genauigkeit – die hauptsächliche Stärke dieser Weltreiseimpressionen. Eine intellektuelle Durchdringung prägt diesen Text ebensowenig wie eine spirituelle oder artifizielle Vertiefung.

Auffällig ist, dass die Verse, die im Wesentlichen mit den Mitteln des Reims und der Bildlichkeit (vor allem Vergleiche) ihre poetische Wirkung hervorzurufen versuchen, von Anfang an trotz (auch nicht stetigem) Jambenfluss von größter Formfreiheit gekennzeichnet sind. Man könnte auch sagen, es handle sich um leicht poetisierte Prosa, dessen selbstverständlichen Ton der Autor allerdings durch die selbst auferlegten Zwänge von Reim und Metrik wieder denaturiert – mit dem Ergebnis einer poetischen Hybrid-Form, als würden Röhren (Vers)- und Transistor (Prosa)- Technik kombiniert: wie effizient das Ergebnis ist, liegt im Urteil des Lesers.

Allerdings kommt es als Folge dieser Entscheidung zu einigen auffälligen sprachlichen Erscheinungen:

So wird oft Verzicht auf den grammatisch notwendigen Konjunktiv geleistet, um den Jambenfluss zu erhalten (zugleich auch ein Beispiel für Dauthendeys Binnenreim-Verfahren und seine Vorliebe für Vergleiche, Zweierfiguren und Alliterationen):

Als darf das Leben nachts nicht mal verschnaufen,
War noch ein Laufen und Verkaufen in allen Gassen her und hin.

Es gibt aber auch zahlreiche Stellen, wo die Verwendung des Konjunktivs (hier: »gäben«) den Jambenfluss nicht stören würde, etwa:

Als ob sie niemals Feierabend geben, rannten in kleinen Läden
Englische Nähmaschinen ...

Möglicherweise erschien dem Autor die Konjunktiv-Imperfekt-Form gestelzt, oder er wollte eine poetisch unmotivierte Häufung des ä-Lauts in den beiden Zeilen vermeiden. Andererseits ersetzt Dauthendey ohne Not auch an anderen Stellen den Konjunktiv durch den Indikativ, so dass davon auszugehen ist, dass er jenem Modus grundsätzlich poetisch ungewogen ist.

Öfter wird – zur Erzielung von Reimen – Gebrauch gemacht von Prädikat-Fügungen mit Formen von »tun« (in der Regel »tat/taten«) plus Infinitiv:

Und andere, die taten einen andern harmlosen Menschen scharf ins Auge fassen,
Und sie begannen diesen einen wie eine Mißgeburt zu tadeln und zu hassen.

Ähnliches gilt für die Verwendung des Perfekts (zugleich – neben wiederum häufigen Vergleichen – Beispiel für andere Vorlieben des Dichters wie die figura etymologica (»klingend klang«) oder der Synästhesie (»heiß gesummt«) – so mager ist sein Repertoire an poetischen Mitteln schließlich nicht!):

... Und haben näselnd vor sich hin, wie irr, gesummt.
Ein Gong und Trommeln schlugen an und haben mitgebrummt,
Die Tänzerin in ihren grauen und den blauen Lumpen blieb vermummt, tat sich nicht rühren.
Sie wartete, als müßte sie all die Musik, die klingend klang wie Glöckchen an den Ziegen,
Und die, wie große Sommerfliegen, heiß gesummt,
In den Gelenken erst als Zucken spüren, ...

Auch Tempus-Wechsel werden gern aus Gründen des Reim- oder Metrik-Zwangs vorgenommen (hier ist außerdem aus dem grammatisch korrekten Präpositionalobjekt »um Brot« ein Akkusativobjekt geworden):

Unhörbar glitten sie herab und bitten unerschrocken Brot ...

Öfter werden Nomen aus Gründen von Reim und Metrik in unflektierter Form gebraucht:

Es fanden sich am gleichen Platz, bei dem Asket und bei dem Stier, noch andere Götterbilder aufgestellt ...

Wie die Unterwerfung unter die Reimzwang-Sklaverei die poetische Wirkung zu unterminieren vermag, dokumentieren die folgenden, die chinesische Zopfmode betreffenden Zeilen:

Damit dem Totengott die Seelenlast nicht leicht entschlüpft, man sich am Kopf den Zopf erfand. Man wird dran sicher durch die Luft gelüpft.

Denn jedem echten Chinamann das Herz für seinen Ahn stets liebend hüpft. Mutter und Vater sind die Lebensgötter, daran ein jeder sich ans Leben festgeknüpft.

Wenn man produktionstechnisch von einer Art poetischen Tagebuchs ausgehen kann, das der Autor während der Weltreise Tag für Tag führte, so spiegeln solche Spacheigentümlichkeiten gewissermaßen die Entstehungsbedingungen. Ein Rilke oder ein C. F. Meyer hätten zu Hause erst einmal die Feile angesetzt. Der Impressionist Dauthendey war sicher nicht so begabt wie die diese beiden, fühlte sich aber dem Flüchtigkeitsgebot seiner Stilrichtung verpflichtet und hätte Sorge gehabt, das Hingetupft-Eindruckshafte seiner Texte (besonders im viertletzten Zitat deutlich) durch ernsthaftes Lektorat zu zerstören. Das Werk ist erst im vierten Jahr nach Beendigung der Reise veröffentlicht worden; Zeit genug wäre also gewesen, es mit stilistisch-poetischem Glanz zu versehen.

 

Der Weltreise von 1905/06 waren bereits zahlreiche Aufenthalte im Ausland vorausgegangen, in Schweden, Paris, Sizilien, Mexiko (der Roman »Raubmenschen« hat hier seine Wurzeln) und Griechenland; der Dichter schien die Reisen als Anregung für sein Schaffen zu benötigen. Poetisch wird dieser Sachverhalt allerdings stilisiert: das Reisen als die eigentliche Existenz des Künstler, der Künstler »als der ewige Weltreisende der Götter in den tief unwirklichsten Zonen« – dieses ästhetische Bekenntnis Dauthendeys, abgelegt auf der Weltreise, erläutert seine Auffassung des Zusammenhangs von künstlerischer Produktivität und realem Handeln. Die Wirklichkeit (hier das Reisen) ruft Eindrücke im Innern hervor, die sich quasi von selbst (»sich ihre Werkstatt machen«) in künstlerische Produkte (»sichtbare Edelsteine«) verwandeln, dies aber in durchaus schmerzhaftem Prozess für den Künstler (»Dornenkronen«) – dieses bezeichnende Schlaglicht auf das impressionistische Kunstschaffen findet sich am Ende von »Erster Blick in Kobe«:

Der Künstler muß den Unwirklichkeitsbildern frönen, die mit ihm reden, lachen, weinen, stöhnen, die in der Künstlerseele kommen und gehen,
Und sich mit der Wirklichkeit nur im Kunstwerk versöhnen; die aus des Künstlers Einsamkeit sich ihre Werkstatt machen und dort arbeiten, und die berauschen gleich dem stärksten Weine,
Und die seine verborgensten Schmerzen umwandeln in sichtbare Edelsteine. Edelsteine, die dann mehr als tausend Weisheitskerzen plötzlich das Licht in der Welt anfachen
Und bald als Genien erscheinen und bald als Dämonen und Drachen. So lebt der Künstler unsichtbar vor der Welt, unsichtbar in einem ewigen Feuerrachen gleich einem verborgenen Gott;
Aber sichtbar ist er wie die andern aus Fleisch und Blut hergestellt und muß, bedroht vom täglichen Verlachen und Verhöhnen, unter den Menschen als Menschlein wohnen
Und trägt einen modischen Hut auf dem Haupt über seinen rotblühenden Dornenkronen und ist der ewige Weltreisende der Götter in den tief unwirklichsten Zonen.

 

Der literarische Ertrag der Weltreise von 1905/06 war groß; ihr kommerzieller Erfolg lag aber weniger in »Die geflügelte Erde« - es gab neben der ersten Auflage nur noch posthum eine zweite (1922, 3.-5.Tausend, was für ein lyrisches Produkt durchaus bemerkenswert ist), bevor der Text in unverändertem Satz in den fünften Band der Gesammelten Werke (1925) aufgenommen wurde. Es sind vielmehr die schmalen Novellenbände »Lingam« (1909) und vor allem »Die acht Gesichter am Biwasee« (1911), die einen größeren Leserkreis erreichten und bis in unsere Tage nachgedruckt wurden (»Lingam« noch 1991 im Suhrkamp Verlag).

Diesen Erfolg konnte der Autor, der auf seiner zweiten Weltreise wegen des ersten Weltkrieges auf Java festlag und im Alter von 51 Jahren an einer Malariaerkrankung verstarb, nicht mehr genießen.

 

Februar 2013
bruce.welch

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