Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Intervall des Andersseins

Darüber, was in Ganna vorging, als sie vom Ankauf des Bucheggerguts erfuhr, kann ich nur Vermutungen anstellen. Was in der Folge zutagetrat, läßt auf ein so verwickeltes Gemengsel von Zorn, Bitterkeit, Aufregung, Anteil und unklarer Hoffnung schließen, daß jeder Versuch einer Beschreibung von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Zunächst fühlte sie sich schmählich hintergangen. Ihre Zwischenträger hatten sich mit der Mitteilung beeilt, ich hätte die Hälfte des Kaufpreises, oder vielleicht noch mehr, bar bezahlt, und da jedes, auch das ungereimteste Gerücht, das über mich umging, nicht bloß zu einem unumstößlichen Glaubenssatz bei ihr wurde, sondern nach und nach alle Formen der Übertreibung und Verdrehung bis zum schlechtweg Unsinnigen, ja Lächerlichen durchlief, wuchs die Summe, die ich, ohne mit der Wimper zu zucken, auf den Tisch gelegt haben sollte, ins Fabelhafte. Selbstverständlich sagte sie sich da: an mir wird geknappt und geknausert, für »die Person« hat er ein Vermögen übrig. Denn daß es Bettina war, die sich das fürstlich eingerichtete Haus gewünscht, daß ich durch ihre arglistigen Umtriebe veranlaßt worden war, es zu kaufen, war für sie von vornherein ein bewiesenes Faktum, an dem zu rütteln nur ein Böswilliger wagen konnte.

Zu gleicher Zeit schrieb sie mir einen Brief, worin sie in überquellenden Ausdrücken ihre Befriedigung über den herrlichen Erwerb kundgab. Wenn sich ein Tropfen Wermut in den Freudenbecher mische, sei es darum, weil sie die wunderbare Nachricht von fremden Leuten habe erfahren müssen und sich bekümmert gefragt habe, wodurch sie denn mein Vertrauen verscherzt habe. Besonders glücklich habe es sie gemacht, daß ich eine so enorme Summe Geldes habe aufbringen können, das lasse den Schluß zu, daß ich mich in mehr als sorgenlosen Umständen befinde und die Klagen und Ängste, die ich ihr gegenüber stets geäußert, Gottseidank des Grundes entbehrten. Doch nehme sie mir diese kleine Unaufrichtigkeit nicht weiter übel, ihr einziges Interesse sei mein Glück und Wohlergehen.

Ich beeilte mich, den Irrtum Gannas zu berichtigen. Sie glaubte mir nicht. Ich verwies sie auf das Grundbuch, um die boshaften Falschmeldungen über den Kauf zu zerstören. Sie glaubte auch dem Grundbuch nicht. Der Zifferngaurisankar, der sich in ihren Wunschträumen erhoben hatte und zu dem sie bebend emporblickte, war in einen rosigen Dunst von Geldzauberei gehüllt. Die Tatsache meines Reichtums verlieh ihren Ansprüchen eine solche Stütze, daß sie sich in den goldenen Wahn hineinlebte wie der Bohrwurm in das selbstgehöhlte Loch.

Aber es konnte mir gleichgiltig sein, ob sie mich für einen erfolgreichen Schatzgräber hielt, der sie um den ihr gebührenden Anteil prellte. Schluß mit den Winkelzügen, den Vorbehalten, den Advokatenkünsten. Es mußte ihr die Unausweichlichkeit dessen, was zu geschehen hatte, klargemacht werden. Jetzt heißt es biegen oder brechen, sagte ich mir, als ich mich in den Zug setzte, um zu ihr zu fahren.

Meine Mitteilung, daß Bettina ein Kind erwartete, wirkte wie ein Donnerschlag auf sie. Fassungslos schaute sie mich an. »Ein Kind,« flüsterte sie bewegt, »ein Kind von dir! Ich kann es mir noch nicht vorstellen. Ich wills hegen wie mein eigenes, das darfst du mir glauben. Glaubst dus mir?« Sie weinte gerührt. Ich gab ihr zu verstehen, aufs Hegen käme es nicht so sehr an. »Du weißt, worauf es ankommt,« sagte ich. – Sie nickte eifrig. Sie versicherte, sie werde noch heute zu Dr. Stanger-Goldenthal gehen, sofort werde sie ihm telephonieren; dann werde man sich zusammensetzen und alles in Ruhe und Güte besprechen, kein Terror, keine Zwangsmaßnahmen; sie wird mir beweisen, daß sie noch die alte Ganna ist... Ob sie mir ein kräftiges Süppchen kochen lassen dürfte? Nein, sage ich, kein Süppchen, bitte...

Die großen blauen Augen schwammen in Nässe; sie war überwältigt von dem Phantasiebild der hingebend-verzichtenden Freundin und Gattin; ihrer selbst entledigt, flüchtete sie ins selige Intervall des Andersseins. Und ich glaubte ihr.

Stanger-Goldenthal

Insofern hielt sie ihr feuriges Versprechen, als sie noch am selben Tag zu Dr. Stanger-Goldenthal eilte, um ihn von der neuen Wendung der Dinge zu unterrichten. Doch ihm den Auftrag zur Einleitung der Scheidung zu geben, wie sie mir zugelobt, hatte sie sich wohl gehütet. Fiel ihr nicht im Schlaf ein. Es genügte, daß sie ihren guten Willen gezeigt hatte. Daß dem »guten Willen« auch die Tat folgen sollte, war eine Forderung, die ihren verwunderten Unwillen erregte.

Ich sagte zu Dr. Chmelius: »Gottseidank, Ganna ist andern Sinnes geworden, ich denke, Sie können alles vorbereiten.« Dr. Chmelius, nicht wenig überrascht, meldete dies dem Dr. Stanger. »Davon ist mir durchaus nichts bekannt,« erwiderte dieser zum noch größeren Staunen des Dr. Chmelius. »Ihr Mandant muß Sie falsch informiert haben.« – »Ich fürchte, Sie sind wieder einmal aufgesessen,« sagte Chmelius zu mir. Ich ging zu Ganna. »Dein Anwalt behauptet, du hättest ihm keinerlei Ermächtigung erteilt.« – »Infame Lüge!« schmetterte Ganna, »ich habe so lang in ihn hineingeredet, bis er mir in die Hand versprochen hat, alles in drei Tagen zu regeln.« Ich glaubte ihr. Schuld an der Verzögerung hatte offenbar Dr. Stanger. Ich bat den Dr. Chmelius, selbst an Dr. Stanger schreiben zu dürfen. Er hatte nichts dagegen einzuwenden. Ich setzte mich hin und schrieb dem Dr. Stanger-Goldenthal einen der einfältigsten Briefe, die je geschrieben worden sind, einen Brief, wie man ihn an einen Menschen richtet, nicht an einen gegnerischen Advokaten. Es war ein kleines Epos, eine viele Seiten füllende Geschichte meiner Ehe und Darstellung der Gründe, die es mir unmöglich gemacht hatten, bei Ganna zu bleiben.

Sein Antwortbrief war voller Ironie. »Ich nehme unbewiesen an,« schrieb er, »daß die Vorwürfe, die Sie gegen Ihre Frau erheben, stichhältig sind. Dann aber entsteht die Frage: waren Sie wirklich in dieser Ehe das Haupt und der Meister, den die Rechtsordnung und die an der Ehe hangende Gesellschaft verlangen? Ich überlasse das Ja oder Nein Ihrem Gewissen. Ihre vorbildlich geschriebene, in logischer Perlenreihe aufgebaute Denkschrift betrachte ich nicht als juristische Waffe, sondern als menschliches Dokument. (Wodurch mir endlich klar wurde, daß das unvereinbare Gegensätze waren.) Die überwiegende sittliche Schuld an dem Ehezwist tragen Sie. Wenn meine Klientin die Scheidung ausdrücklich begehrt, werde ich sie durchführen. Entschließt sie sich gegen die Scheidung, so werde ich ihr bei dem zu erwartenden Rechtskampf nach Kräften meine Hilfe leisten.«

Ich war konsterniert. Was salbaderte denn der Mann, Ganna hatte mir doch ihre Bereitwilligkeit kundgegeben. Es war doch nicht denkbar, daß sie in diesem lebenswichtigen Augenblick wieder in ihre alten Doppelzüngigkeiten verfiel. Ich las ihr die Stelle aus Dr. Stangers Brief vor, wonach alles von ihrer Willensentschließung abhing. Sie war sichtlich betreten, schwatzte eine Weile fahrig herum, spielte die taubenäugige Unschuld, aber innerlich zitterte sie vor Wut und machte nachher dem Dr. Stanger eine greuliche Szene, in der sie die Sache so darstellte als hätte er mir über ihren Kopf hinweg eine bindende Zusage gegeben. Das mußte natürlich den Mann gegen mich aufbringen, und er schrieb mir grob: »Es geht nicht an, sehr geehrter Herr, daß Sie meiner Klientin über mich Mitteilungen machen, die der Vollständigkeit entbehren. Dadurch wird meine Klientin irregeführt. Sie meint, ich sei für die Scheidung. Ich bin aber gegen die Scheidung. Sie muß frei handeln. Sie darf nicht das Gefühl eines Druckes haben, selbst wenn dieser von ihrem Rechtsfreund ausgeübt würde.«

Nun drehten sich die Wände und die Häuser um mich. Ich verstand überhaupt nichts mehr. Neuerdings beriet ich mich mit Dr. Chmelius und setzte meiner Dummheit die Krone auf, indem ich den Wunsch äußerte, Dr. Stanger-Goldenthal in seiner Kanzlei zu besuchen, eine persönliche Aussprache, faselte ich, werde die Mißverständnisse beseitigen. Ich glaubte an Aussprache; ich glaubte an Mißverständnisse. Ich glaubte an die Wirkung meiner Person und der ihr innewohnenden Wahrheit wie einer, der von Wegelagerern gestellt wird, sich darauf verläßt, daß er griechisch gelernt hat. Dr. Chmelius sagte achselzuckend: »Probieren Sie es. Schaden kann es nicht.« Da er mich so bedrängt sah, wollte er mir keinen Weg verrammeln, auch den aussichtslosesten nicht, wußte er doch selber keinen gangbaren mehr.

Dr. Stanger ließ mich wissen, es sei ihm eine Ehre, mich zu empfangen. Die Unterredung dauerte anderthalb Stunden. Der Mann trug einen unsichtbaren Talar. Er war bis zur Unkenntlichkeit eingehüllt in die Würde eines Verfechters der sittlichen Idee der Ehe. Ein vollendeter Schauspieler. Mir war zumute als träte ich Luft und redete Wolle. Aber hauptsächlich sprach der Andere. Und zwar mit Nachdruck, mit Selbstgefühl und von richterlicher Warte herab. Mir wurde schwindlig, mir wurde übel. Als er mich mit zahlreichen Ergebenheitsbeteuerungen ins Vorzimmer begleitete, wußte ich, daß ich eine Schlappe und eine Demütigung erlitten hatte.

Dr. Chmelius hielt es nunmehr für geboten, bei Ganna höflich anzufragen, ob und wofür sie sich entschieden habe. Darauf erfolgte die gewundene Gannaantwort, das Versprechen, das sie mir gegeben, bleibe in Kraft, doch könne sie sich umso weniger drängen lassen, als in diese Zeit eine Reihe von Familiengeburtstagen fielen und sie aus Pietät verhindert sei, so traurige Anstalten wie die zu einer Ehetrennung zu treffen; überdies sei ihr Herz angegriffener denn je, und sie müsse auf ärztliche Vorschrift alle Aufregungen meiden. Mich, dem vor Ungeduld die Zeit in Scherben zerbrach, vertröstete sie gleißnerisch auf den Januar. Es war jetzt September. Sie gab mir ihr »heiliges« Ehrenwort, daß sie bis zum Januar mit Dr. Stanger-Goldenthal den endgiltigen Notariatsakt ausarbeiten werde; sodann müsse ich mir vier Wochen »gönnen«, um mit ihr alles in Liebe durchzusprechen; erfüllte ich diese unerläßliche Bedingung, so seien alle Hindernisse aus dem Weg geräumt. Die täglichen aufreibenden, wesenlosen, fruchtlosen Gespräche mit Ganna und den Anwälten hatten meine Kraft erschöpft, ich wollte nachhause und zu Bettina; was hätte ich tun sollen, Ganna ein anderes Herz einsetzen? mir selber einen besseren Verstand? Ich fuhr mit wüstem Schädel und unverrichteter Dinge nach Ebenweiler und erzählte gläubig der sich gläubig stellenden und an dem ganzen Unternehmen nicht übermäßig interessierten Gefährtin, im Januar werde sich Ganna scheiden lassen.

Und als ich im Januar wieder auf dem Kriegsschauplatz erschien, überreichte mir Dr. Chmelius in der Tat den inzwischen von Dr. Stanger-Goldenthal entworfenen, von Ganna inspirierten »endgiltigen« Notariatsakt. Wortlos. Mit bissig verschlossenen Mienen. Ich las das Schriftstück aufmerksam durch, faltete es zusammen und gab es dem Anwalt wortlos zurück. Ich hatte das Gefühl, in die Hände von Roßtäuschern geraten zu sein.

Soll ich wirklich aufzählen, was mir auf diesem Stück Papier zugemutet wurde? Ich vermag es nicht. Die Feder weigert sich. Ich werde ja ohnedies bald von den Fußeisen und Daumenschrauben sprechen müssen, die mir angelegt wurden, als ich entschlossen war, dem schändlichen Handel ein Ende zu bereiten, kost es, was es wolle, und die mir in einer psychologisch leicht erklärlichen Verblendung annehmbar erschienen, vergleichsweise menschlich, gegen den mörderischen Zug von Paragraphen gehalten, den Dr. Stanger und seine riegelsame Gehilfin vor meinen erstarrenden Augen vorüberdefilieren ließen. Ich übersah zum ersten Mal mit vollkommener Deutlichkeit meine Situation und gewahrte ein so bestürzendes Bild von Gannas wahrem Wesen, daß ich eine Weile versteinert war, so wie es denen im Mythos ergeht, wenn sie das Antlitz der Gorgo erblicken. Aber nein, das war es ja nicht; es gab kein wahres Wesen und kein falsches Wesen, es gab nur ein irrwischhaftes Zwischengebiet, etwas Bodenloses und schauerlich Untiefes, etwas Tagverlassenes, in seinen Zusammenhängen Scheinhaftes und aufregend Unlogisches. Darum auch nichts von einer Gorgo. Die Gorgo ist streng und finster, das wäre noch gut, da wäre Umriß und Haltung, nicht das gespenstisch Unberechenbare, das der hingreifenden Hand ein Gefühl erweckt als tauche sie in den schleimig-brauenden Urnebel.

»Sagen Sie mir,« wandte ich mich bedrückt an Dr. Chmelius, »wovon soll ich selber leben, wenn ich diesen Berg von Verpflichtungen in seinem ganzen Umfang abtrage? Wie stellt sich die Frau das vor?« – »Das weiß ich selber nicht,« erwiderte Chmelius trocken, »wir wollen uns bei ihr erkundigen.« – »Die Dinge liegen doch so,« fuhr ich fort, »sie beschlagnahmt nicht nur mein gesamtes Hab und Gut und Werk, sondern verlangt auch darüber hinaus noch Abgaben bis zum Verbluten. Es ist als wenn man einen Erschlagenen in Stücke schneidet, um noch sein Fleisch zu braten. Hat es je dergleichen gegeben?« – »Soll ich Ihnen eine Wagenladung meiner Akten zuschicken?« fragte Chmelius mit Hohn. – »Ich muß aber zu einem Resultat kommen, ich muß!« – »Schön. So schließen Sie in Gottesnamen diesen Frieden von Versailles. Aber ohne mich.« – »Gibt es keinen Richter, kein Gesetz, keinen Gnadenakt, die mich befreien?« – »Das sind Träume.«

Vernichtet ging ich meiner Wege.

Worauf wartet Bettina?

Die zwei Jahre, die es noch dauerte, bis die Scheidung erfolgte, waren ein zermürbendes, krankmachendes Ringen. Es ging um Geld und wieder um Geld und abermals um Geld, und um Akten und Pakte, um Verbriefungen und Sicherheiten, und wenn man meinte, man sei der Schlichtung nahe, enthüllte sich alles als Vorwand und Trug. Da nützte der Frieden des Bucheggergutes nichts, Bettinas Tapferkeit und ihre Kunst, den Alltag zu meistern, nichts, Versenkung in Arbeit nichts, Zuspruch der Freunde nichts, sogar das Menschlein Helmut nichts, das, vom Himmel erbetener Sohn, zu seiner Zeit geboren wurde und unser Labsal war von seiner ersten Stunde an.

Die trübe Grundstimmung blieb und breitete sich aus. Die Scham über meine Ohnmacht saß wie ein Krebs im Fleische, wie Arsenik in den Eingeweiden. Und Bettina sah zu und sah zu. Ich wußte nicht, was mit ihr war; etwas war mit ihr, ich konnte es nicht ergründen. Ich wußte nur soviel: um die Freude ging es jetzt nicht mehr, um Lachen und Lächeln nicht mehr; es ging um was anderes, aber ich wußte nicht, um was. Sie ließ die Gannabriefe regnen, sie ließ die Satzschriften schneien und sah zu. Es waren böse Winter in diesen Jahren...

Während eines Aufenthaltes in Berlin brach ich eines Tages zusammen. Ein organisches Leiden hatte sich eingenistet. Der Arzt, der mich behandelte, empfahl Schonung und Ruhe. Aber wie konnte ich ruhen und mich schonen, solange Ganna tobend und drohend durch meine Welt flitzte und ich der geliebten Gefährtin als Spielball in den Händen einer bösen Trolle erscheinen mußte, solange mich die unschuldigen Augen meines Letztgeborenen fragten: wo ist mein Sohnesrecht? Solange durfte ich nicht ruhen und durfte auch nicht sterben.

Hornschuch

Bei aller Sympathie für Dr. Chmelius konnte ich mir nicht länger verhehlen, daß es dem allzu überlasteten Mann an Stoßkraft fehlte. Er spürte es selbst; mehrmals hatte er mir freundschaftlich vorgeschlagen, ihn seines Auftrags zu entbinden, wenn mir ein anderer an seiner Statt genehmer sei. Da wurde mir ein noch junger Anwalt lebhaft empfohlen, ein gewisser Hornschuch, der sich in unserer Gegend niedergelassen und in kurzer Zeit eine bedeutende bäuerliche Praxis erworben hatte. Er war vier Jahre lang an der Front gewesen, und man erzählte sich, daß er als Offizier eine beispiellose Bravour entfaltet habe. Nach dem Krieg war ihm das Leben in der Stadt und in den Kreisen seiner früheren Freunde verleidet; ein bei einem Vierzigjährigen, von Tatenlust glühenden Mann sehr ungewöhnliches Einsamkeitsbedürfnis hatte ihn bewogen, ein freiwilliges Exil aufzusuchen und nach seinem eigenen Gefallen und seiner eigenen, ziemlich urwüchsigen Methode zu leben.

Dieselbe unbekümmerte Draufgängerei, die er als Soldat an den Tag gelegt, bewies er auch im Dienst der Justiz. Damals übernahm er fast nur Fälle, bei denen es sich um ein eklatantes Unrecht handelte, das der Klient erlitten hatte. Öffentliche Mißstände aufzudecken, das Schneckentempo der Ämter durch heftige und manchmal gefährlich skurrile Eingaben zu beschleunigen, hielt er für seinen Beruf. Nicht zu v erwundern, daß er bei den Behörden nicht eben beliebt war. Aber alles, was mir über ihn zu Ohren kam, leuchtete mir ein, und so ging ich eines schönen Tages zu ihm hin. Er wohnte und amtierte in einem winzigen Haus in stundenweiter Entfernung. Kein Schild an der Tür, keine Kanzlei; ein Privatmann empfing einen Gast. Er war ein jungenhaft aussehender Mensch mit einem Kalmückengesicht und trotzig blickenden Augen. Schweigend und fast regungslos hörte er mir zu. Dann sagte er: »Ich werde mir die Akten ansehen. Vielleicht ist Kollege Chmelius so freundlich, sie mir zu schicken.«

Dies geschah. Ein paar Wochen lang rührte sich Hornschuch nicht, schrieb nicht, zeigte sich nicht. An einem Spätherbstnachmittag ließ er sich endlich bei mir melden, und es fand folgendes Gespräch zwischen uns statt. »Nachdem Sie meine bescheidene Person für den Kollegen Chmelius eingetauscht haben,« begann er, »müssen Sie trachten, daß die Gegnerin auch den Kollegen Stanger-Goldenthal verabschiedet. Eine Liebe ist der andern wert.« – »Wie soll ich das bewerkstelligen?« – »Sehr einfach. Wer, denken Sie, wird diesen Herrn mit dem imposanten Doppelnamen bezahlen müssen?« – »Vermutlich ich.« – »Und geben Sie sich der Hoffnung hin, daß seine Kostenaufstellung durch die Bewunderung für Sie beeinflußt sein wird?« – »Gewiß nicht.« – »Wollen Sie sich nicht davon überzeugen?« – »Das kann ich tun.« – »Das müssen Sie tun.« – »Und dann?« – »Dann werden Sie erklären: ich bezahle, aber erst an dem Tag, an dem die Scheidung vollzogen ist, und zwar zu vernünftigen Bedingungen.« – »Er wird mich auslachen.« – »Lassen Sie ihn lachen und das übrige meine Sorge sein.« – »Sie meinen, man muß ihm das Interesse an der Verschleppung nehmen?« – »Genau das meine ich. Entweder er zwingt seine Mandantin zu einem unwiderruflichen Schritt oder er legt die Vertretung nieder.« – »Leicht möglich. Aber dann wird Ganna zu einem andern gehen, und ob wir mit dem besser dran sind, steht dahin.« – »Auch das müssen Sie mir überlassen, hochgeehrter Herr. Gestatten Sie, daß ich für eine Weile als Ihr Gehirn funktioniere.« – »Was soll also geschehen?« – »Da, wie Sie richtig voraussehen, der unwiderrufliche Schritt von Frau Ganna nicht getan werden wird, ersuchen Sie den Kollegen zu gegebener Zeit um seine Nota, machen ihm aber bemerklich, daß er sich wegen der Höhe dieser Summe mit seiner Klientin auseinandersetzen müsse. Er wird sie nicht zart anfassen, wenn es einmal so weit ist, dessen können Sie sicher sein. Er wird ihr die Kehle zudrücken, und wenn sie Luft bekommen will, muß sie den Anwalt akzeptieren, den wir gutheißen.«

Das reine Ei des Kolumbus. Ungefähr so verliefen die Dinge dann auch. Ich hatte Ganna viele Male beschworen, einen Sachwalter aufzugeben, der seine ganze Schlauheit und Geschicklichkeit darein setzte, den Streit zu schüren statt beizulegen, die Fäden künstlich zu verwirren statt zu ordnen, aber sie glaubte an Stanger-Goldenthal wie ans Evangelium, doch was sag ich, wie sie nie ans Evangelium geglaubt hatte. Wenn sich zwei Menschen verbünden, deren Lust und Kunst es ist, im Trüben zu fischen und unter hohlen Abrakadabras Schaumschlägerei zu treiben, ist die Beziehung inniger als die meisten echten Freundschaften, wie ja auch die Diebsgenossenschaften fester zu sein pflegen als die der ehrlichen Leute. Als Ganna aber plötzlich die Rechnung für die entente cordiale vorgehalten wurde, als die gewaltige Summe ihr dartat, wie hoch in die Kosten ihre juristische und menschliche Begeisterung gestiegen war, daß jedes Telephongespräch sich so teuer stellte wie ein Diner bei Sacher, jede der so reizvollen und aufregenden Konferenzen mehr Geld verschlungen hatte als ihr Wochenbudget ausmachte, schrie sie Zetermordio über Schurkerei und Beutelschneiderei. Nur der eine Trost blieb ihr, daß sie sich sagen und mich glauben machen konnte, sie habe mir zuliebe, weil ich es gewünscht, die Verbindung mit dem genialen Rechtsanwalt gelöst. Es kam ein kurzes Interregnum, eine advokatenlose Zeit; da war ihr zumut wie einem Morphinisten während der Entziehung. Verstört und voll Bitterkeit schrieb sie mir: »Das hast du nun erreicht, das war das Ziel eurer Taktik: ich soll unter dem Druck mangelnden Rechtsschutzes stehen.« Und als ich auf Hornschuch hinwies und ihr riet, ihn als gemeinsamen Sachwalter anzunehmen, klang ihr der Name wie Drohung aus einer Wetterwolke. Ein Unbekannter; noch wußte sie nichts von ihm, doch haßte sie ihn bereits mit dem verzehrenden Haß des Wahnmenschen, den die unbekannte Gefahr zu den gefährlichsten Anschlägen treibt, ihr vorzubeugen.

Sechzehn bis zwanzig Gannas

Bei einer der häufigen Besprechungen, die ich mit Hornschuch hatte, gab er mir zu verstehen, daß es mein fortwährender persönlicher Verkehr mit Ganna sei, der das größte Hindernis für eine rasche Klärung bilde. Er riet mir, Gannas Briefe nicht mehr zu beantworten und meine regelmäßigen Zusammenkünfte mit ihr einzustellen. Ich sagte ihm, ich müsse mich doch um meine Kinder kümmern, hauptsächlich um Doris. »Warum rufen Sie die Kinder nicht zu sich, wenn es schon sein muß, daß Sie alle vier bis sechs Wochen in die Stadt fahren?« fragte Hornschuch. – »Das nützt nichts. Ruf ich sie, ist auch Ganna da.« – Hierauf machte Hornschuch eine Bemerkung, die mich wie ein Nadelstich zusammenzucken ließ. Er fragte nämlich, ob ich noch nicht darüber nachgedacht habe, wie verletzend mein dauernder Umgang mit Ganna für Bettina sei. Ich stellte es heftig in Abrede. Es könne nicht sein. Er täusche sich. Ich hätte nicht das geringste Anzeichen dafür. Er lächelte in seiner spöttischen Art.

Er hatte sich nicht getäuscht. Überleg ich es heute, so erscheint mir meine damalige Blindheit oder Stumpfheit geradezu unverständlich. Wäre mir die Gabe der Aufmerksamkeit verliehen gewesen, ich hätte längst wahrnehmen müssen, daß meine regelmäßigen Verabredungen mit Ganna, das unablässig wiederholte Zuihrfahren, die Besuche in ihrem Haus, das Einandertreffen in der Stadt oder an allen möglichen Orten zwischen Ebenweiler und Wien, für Bettina etwas Unbegreifliches hatten.

Sie hatte eingesehen, daß der in ihren Augen verabscheuenswerte Kampf, in den sie gegen ihren Willen verstrickt worden war, mehr Glück und Leben vernichtete als jemals wieder aufgebaut werden konnte. Aus dem zweifelhaften Siegespreis machte sie sich nichts. Es lockte sie nicht im mindesten, eine anerkannte Bürgerin mit Ehezeugnis zu werden, es war ihr Ehrgeiz nicht, es war vielleicht nicht einmal ihr Weg, und unter keinen Umständen hätte sie sich herbeigelassen, vor Ganna deswegen die Knie zu beugen, noch ihre Schuldnerin und Tributärin zu werden. Es ging gegen ihren Stolz, es ging gegen die weibliche Würde. Eines Tages sagte sie es mir ganz offen. »Es liegt mir nichts an der Scheidung,« sagte sie, »ich pfeife auf die Scheidung.« Ich war betroffen. »Und unser Bub?« hielt ich ihr entgegen. – »Wieso der Bub? Was hat der damit zu schaffen?« – »Willst du ihn ohne Namen aufwachsen lassen, als Bankert?« – »Das sind Altetantenbegriffe,« erwiderte Bettina, erglüht vom Geist des Antikrals; »wie denn ohne Namen? er wird meinen Mädchennamen führen, das kostet ein Gesuch, wie mir Hornschuch sagt, den Namen meines Vaters, und der ist nicht schlechter als der Name Herzog.« Ich sah sie bestürzt an. »Nein,« sagte ich, »nein. Nein.«

Es wurde aber nicht anders: für Bettinas Gefühl lebte Ganna im selben Haus mit ihr, Gannas hohle Papageienstimme erfüllte die Bäume, der Hauch von Gier und Habenwollen drang durch Türen und Fenster, und es war kein Mann da, der dem wehrte, kein Herr, keine zugreifende Hand. Kann sein, daß ich ihre Enttäuschung in einem entlegenen Winkel meines Innern spürte, aber die Augen verschloß ich davor. Ich hatte noch nicht auf die Hoffnung verzichtet, Ganna zur Einsicht zu bringen, trotzdem es der bare Schwachsinn war. Ich verschwieg Bettina meine Zusammenkünfte mit Ganna. Wenn ich Ganna treffen wollte, sie war um diese Zeit in einer nahgelegenen Sommerfrische, gebrauchte ich allerlei Ausflüchte, griff sogar zu plumpen Lügen und ging heimlich zu ihr, fast wie wenn ein Liebhaber zu seiner Geliebten schleicht. Es hatte etwas Perverses. Aber die Auseinandersetzungen mit ihr hinterließen ihre Spuren in meinem Gesicht. Wenn Bettina die bleigrauen Schatten unter meinen Augen sah, wußte sie Bescheid. Sie, die stets geschlafen hatte wie ein Baby, acht, neun Stunden in einem Zug, lag jetzt manchmal bis zum Morgengrauen mit weitoffenen Augen. Sie sah sich außerstande, etwas gegen mein selbstmörderisches und verräterisches Treiben zu unternehmen. Auch mit Hornschuch sprach sie nicht darüber. Ganna, die ihn glauben machen wollte, sie und ich seien ein Herz und eine Seele, hatte nicht versäumt, ihm gelegentlich zu schreiben, wir seien jetzt auf dem besten Weg zum Frieden; verlogenes Gerede.

Mit einer schwachen blöden Hoffnung, einmal ums nächste, ging ich zu Ganna, und verließ sie betäubt und geschunden, einmal ums nächste. In der Nacht fuhr ich aus dämonenbevölkertem Schlaf auf, in welchem mich die Bitterkeit wie Blutgift von einer Seite auf die andere geworfen hatte, und sechzehn bis zwanzig Gannas standen um mein Bett herum, die mit ihren dumpfgeplapperten Stereotypsätzen mein Ohr bis zum Brausen füllten: »Ich werde dir ein bindendes Offert überreichen, wenn du wiederkommst.« – »Mich Verschwenderin zu nennen ist eine Gemeinheit. Ich führe ein Wirtschaftsbuch mit numerierten Rechnungen.« – »Ich will mich dir in allem fügen. Nimm mir nur den Vorwand, nein zu sagen.« – »Da es gegen meinen Willen geschieht, muß ich mir sagen können, daß es nicht zu meinem Nachteil geschieht.« – »Ihr könnt mich beschimpfen, ihr könnt mich verleumden, das läßt mich kalt, mein Gewissen ist fast betrübend gut.« – »Alles hängt von dir ab, Alexander. Noch ist nichts verloren. Um deiner Ruhe willen gebe ich dir die Freiheit. Aber natürlich nur auf einer korrekten Basis.« – »Wenn dir der Thermophor Herzklopfen verursacht, lege ein nasses Flanelltuch unter.« – »Es dürfte nicht viele Frauen in meiner Lage geben, die keine andere Sorge kennen als dem Mann ein Plus an Wohlbefinden zu verschaffen.« – »Ich gehe mit dir Hand in Hand durch einen Regenbogen zum ewigen Richter.« – »Bettina muß wissen, daß du zugrundegehst, wenn das Band zwischen uns zerreißt.« – »Du fügst dir durch dein Verhalten gegen mich unberechenbaren Schaden zu...« Und so weiter, und so weiter. Ihr seht, ihr hört, Kassandra macht der Schmeichlerin Platz, die feilschende Krämerin der besorgten Gattin, Verheißungen wechseln mit Drohungen, Bitten mit zänkischem Aufbegehren; die eine Ganna hat ein seelenvolles Madonnengesicht, die andere die wilden Augen einer Hexe; eine zeigt sich in einer schmutzigen karrierten Wolljacke, die andere in einem falschen Kimono, aus dem unten die Strümpfe wie leere Wursthäute herausflattern; eine spricht mit der Kehle voll Mehl, die andere keift vulgär; eine ruft unaufhörlich Hallo-oh, um sich vernehmlich zu machen, die andere sucht verzweifelt Geld und kniet schluchzend auf dem Teppich; die eine hat den Blick, der immer in die vierte Dimension zu flüchten scheint, wenn sie in den drei andern versagt hat, die andere kritzelt Satzschriften auf williges Papier: und einer jeden muß ich Rechenschaft ablegen, einer jeden etwas beweisen und erklären. Warum? Was beweisen? Was erklären? Daß ich ein Narr bin und reif fürs Irrenhaus?

Ganna schenkt mir die Scheidung zum Geburtstag

Hornschuch hatte in aller Ruhe seine Vorbereitungen getroffen. Er glich einem Raubvogel, der einstweilen noch als winziger Punkt in den oberen Luftschichten schwebte, um erst herabzustoßen, wenn er seiner Beute sicher war. Er stand im Briefwechsel mit Herrn Heckenast, der Gannas Interessen zu den seinen gemacht hatte und als Wortführer des Krals auf den Plan trat. Auch mit Gannas neuem Anwalt hatte er sich in Verbindung gesetzt, einem gewissen Dr. Fingerling. Ganna hatte die Vereinigung der Agenden in Hornschuchs Hand abgelehnt. Einen Advokaten mußte man für sich allein haben, genau so wie einen Ehegatten. Mit der Wahl des Dr.  Fingerling schien Hornschuch nicht unzufrieden. Es sah aus als hätte er es mittelbar verstanden, Ganna bei dieser Wahl zu beeinflussen. Obgleich Dr. Fingerling seine Informationen von Herrn Erich Heckenast aus Berlin bezog und dieser sich wiederum an die Willensmeinung seiner Schwägerin Ganna hielt, erhob sich aus dem Nebel der Kontroversen ein vertragsähnliches Gebilde ab.

Kaum fing aber die Sache an, in das Stadium der Verwirklichung zu treten, so bemächtigte sich Gannas ein wachsendes Unbehagen. Ihre Lage war ungefähr die eines von der Polizei verfolgten Menschen, der so lang und so oft seinen Unterschlupf gewechselt hat, bis er endlich von einem schlauen Detektiv am Kragen gepackt wird. Sie trachtete sich dem Zugriff zu entwinden. Sie hatte zwar dafür gesorgt, daß der neue Notariatsakt, der seit Wochen zwischen ihr, Schwager Heckenast und den beiden Anwaltskanzleien wie ein diplomatisches Schriftstück hin- und hergeschoben, verlängert, beschnitten, kritisiert und kommentiert wurde, derartige Zahlungslasten und sonstige Verpflichtungen für mich vorsah, daß an seine Unterzeichnung schwer zu glauben war. Doch konnte man nicht wissen. Diese Bettina würde es schon durchsetzen. Auf einmal war es Ganna nicht mehr geheuer. Die Gefahr bestand, daß sie selber in der Falle gefangen wurde, die sie so fleißig mit Speck versehen hatte. Dazu kam, daß sie sich vor Schulden nicht mehr zu retten wußte. Dr. Stanger-Goldenthal drängte wie ein Shylock auf Bezahlung und drohte mit der Pfändung der ihr als Eigentum verschriebenen Haushälfte. Sie flehte Hornschuch an, er möge bewirken, daß Dr. Stangers Forderungen wenigstens zu einem Teil beglichen würden, sie werde dann die Scheidung schon aus Dankbarkeit beschleunigen. Aber Hornschuch erklärte kalt: erst der Pakt, dann das Geld.

In dieser Not beschloß Ganna, vom Schauplatz zu verschwinden, und zwar ins Ausland. Ihre Überlegung war primitiv: wenn zwei Leute geschieden werden sollen, müssen alle beide zur Stelle sein; bin ich nicht erreichbar, so kann man mich nicht zur Unterschrift zwingen. Sie packte also in größter Hast ihre Koffer, raffte alles verfügbare Geld zusammen und fuhr mit Elisabeth und Doris an die französische Riviera. Zwei Tage zuvor hatte sie mich von ihrem Vorhaben verständigt; ich hatte ihre Absicht, sich aus dem Staub zu machen, durchschaut, trotzdem sie versucht hatte, mein Mitleid auf ihre asthmatischen Anfälle zu lenken, die einen Aufenthalt im Süden gebieterisch heischten. Zurückhalten konnte ich sie nicht; da hätte ich sie einsperren lassen müssen. Ich hatte ihr nur verboten, Doris mit auf die Reise zu nehmen. Im Herbst war für das jetzt elfjährige Mädchen, nach vielen mißglückten Versuchen und Hospitieren da und dort, eine passende Lehranstalt gefunden worden; am frohesten war Doris selbst. Nun sollte sie mitten im Semester wieder aus der Ordnung gerissen und noch dazu in ein fremdes Land verbracht werden. Mein zorniges Veto beantwortete Ganna mit einer aufsässigen Depesche, der sie einen Eilbrief nachsandte, in welchem sie mir wortreich auseinandersetzte, Doris sei überanstrengt und bedürfe der Meerluft, die Schule sei miserabel, schon um halb sieben Uhr morgens müsse das arme Herzchen aus den Federn, sie trage sich mit der großartigen Idee, das Kind in einer Tanzschule in Nizza unterzubringen; ich könne mir die Begeisterung des süßen Lieblings kaum vorstellen. Ich zerriß den Brief in Fetzen und ersuchte Hornschuch, mein ausdrückliches Verbot Ganna noch einmal und in kategorischer Form zu übermitteln. Damit hielt ich die Angelegenheit für erledigt. Am selben Tag mußte ich zu einer geschäftlichen Besprechung nach München fahren. Kaum hatte ich dort mein Zimmer aufgesucht, als ich aus Ebenweiler angerufen wurde. Es war Bettina. Sie beschwor mich mit gepreßter Stimme, auf keinen Fall nach Nizza zu reisen. Erstaunt fragte ich, aus welchem Grund ich denn nach Nizza reisen sollte. Sie teilte mir mit, es sei ein Telegramm von Ganna da, die sich mit den beiden Töchtern bereits in Nizza befinde und, wie nicht anders zu erwarten, um Geld bitte. »Aber Bettina!« rief ich bestürzt in den Apparat, »weshalb sollte ich nach Nizza fahren wollen, ich wußte ja bis zu dieser Minute nicht, daß die Frau abgereist ist... also doch mit Doris... das ist wirklich das Äußerste.« Als dann die Stimme Hornschuchs aus dem Apparat schallte, der mich mit ungewöhnlichem Ernst vor einer Unbesonnenheit warnte, weil er sonst, wie er sich ausdrückte, für Frau Bettina nicht bürgen könnte, verschlug es mir die Rede. Was bedeutete das? Langsam begriff ich, was es bedeutete. Bettina fürchtete, ich würde Ganna nachjagen, um das Kind zu holen und mich bei dieser Gelegenheit wieder mit ihr in Verhandlungen einlassen. Während des Gesprächs hatte ich plötzlich gespürt, daß sie meiner Versicherung, ich wüßte nichts von Gannas Abreise, mißtraute, und da wurde mir angst und bang. Ich fuhr so schnell wie möglich nach Ebenweiler zurück.

Ich veranlaßte nun, daß Gannas Monatsbezüge gesperrt wurden. Dies wurde ihr von Hornschuch brieflich bekanntgegeben. Sie protestierte in einem vierzig Worte langen wutgeladenen Telegramm. Ein zweites, noch längeres Telegramm ging an Schwager Heckenast. Dieser richtete ein ebenso herrisches wie beleidigendes Telegramm an mich, ein zweites an Hornschuch. Hornschuch schrieb an Dr. Fingerling, er sei höchlich befremdet, daß er, Fingerling, seine Mandantin mitten in den entscheidenden Verhandlungen nicht nur habe wegreisen lassen, sondern sie außerdem noch mit Geld versehen habe. Fingerling schrieb einen pikierten Brief über die Eigenmächtigkeit seiner Mandantin an Herrn Heckenast. Herr Heckenast schrieb einen verärgerten Brief an Ganna und forderte sie zur Heimkehr auf. Ganna telegraphierte, sie denke nicht daran, sie lasse sich nicht vergewaltigen. Mich wunderte, daß der Draht zwischen Nizza und Berlin und Nizza und Ebenweiler nicht entzweiriß von ihrem pathetischen Getobe. Indessen ging ihr das Geld aus. Sie konnte die Hotelrechnung nicht bezahlen und mußte sich von fremden Leuten Geld ausleihen. Die fremden Leute wurden argwöhnisch, als sie den Termin nicht einhielt und drohten mit unangenehmen Schritten. Sie telegraphierte mir, sie werde eine gerichtliche Klage gegen mich einbringen. Es schüttete Gannabriefe und Gannadepeschen wie Schrappnells in einer Schlacht. Unser Postamt hatte alle Hände voll zu tun.

Während dieses wahnwitzigen Alarms wurde der Notariatsakt ausgearbeitet. Heftig bedrängt von ihrem Anwalt, der wieder von Hornschuch in die Enge getrieben war, sah sich Ganna gezwungen, die blaue Küste zu verlassen. Hornschuch fuhr nach Wien, wo er sich mit Herrn Heckenast in Dr. Fingerlings Kanzlei treffen sollte. Mir wurde gesagt, ich möchte mich bereit halten und auf ein gegebenes Zeichen ebenfalls nach Wien fahren. Das Zeichen wurde gegeben und ich fuhr.

Szene: Schwager Heckenasts Zimmer im Hotel. Dramatis personae: Heckenast, Hornschuch, Dr. Fingerling und ich. Inhalt des Stückes: das große Feilschen. Um jeden einzelnen Punkt wurde gefeilscht. Es waren so viele Punkte, daß nach drei Stunden noch kein Ende abzusehen war. Schwager Heckenast war von preußischer Kurzangebundenheit. Er ließ uns fühlen, daß er durch seine Anwesenheit gleichsam ganz Österreich, das doch so klein und arm war, eine Ehre erwies. Er war leidenschaftslos wie ein Papiermesser. Obwohl beträchtlich jünger als ich, behandelte er mich wie ein von seiner moralischen Würde geschwellter Onkel, der den Neffen aus seinem Herzen verstoßen hat; sein bürgerliches Empfinden war unheilbar verletzt durch das verwerfliche Betragen dieses Flüchtlings aus dem Kral. Kalt und schroff wie eine Mauer stand er vor den Rechten seiner Schwägerin Ganna. Er war vollkommen sachlich. Laßt die Nichts-als-Sachlichen zur Macht kommen, und mit der Barmherzigkeit und der Phantasie auf Erden ist es aus.

Dr. Fingerling war ein hagerer, rothaariger, höflicher Herr, der den Fall gern zu allgemeiner Zufriedenheit beenden wollte. Er wäre froh gewesen, wenn er schon sein Honorar in der Tasche gehabt hätte. Zehntausend Schilling waren ihm nach Unterfertigung des Vertrages zugesagt, eine klotzige Summe. Von Zeit zu Zeit winkte er Hornschuch zu sich heran und raunte ihm etwas ins Ohr. Der, scharfäugig, beweglich, knapp in Worten, rasch und geistesgegenwärtig in Angriff und Parade, erinnerte an einen Florettfechter. Mehr gelehrter Jurist als Advokat, fiel es ihm nicht schwer, den preußischen Unerbittlichen in die Ecke zu drängen, was freilich an der Härte der Bedingungen wenig änderte. Obschon er das gerade noch Tragbare für mich zu erkämpfen trachtete, ahnte mir doch, daß er meine Verhältnisse und meine Leistungsfähigkeit verhängnisvoll überschätzte. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Die Dinge waren zu weit gediehen. Es war wie ein Steinschlag. Stemmt man sich gegen ihn, wird man zerschmettert.

Die ganze Zeit über stand ich mit dem Rücken ans Fenster gelehnt und ließ den Hagel von Paragraphen, Zahlen und Zwangsbestimmungen über mich ergehen. Meine Gedanken bewegten sich in zwei Sphären. Die eine war losgelöst von dem Schlachtplatz, auf dem ich den Ochsen vorstellte; was geht mich das alles an, dachte ich, das Gerassel der Straf- und Sühneketten, was geht es mich an, es ist ja nur Geld, was sie von mir haben wollen, mögen sie es haben, schmeiß ihnen den Krempel in die Zähne, mögen sie sich balgen um meine Haut, die Seele kriegen sie doch nicht. Aber die andere Sphäre war sorgenschwarz, in ihr erhob sich die Frage: wie soll ichs herschaffen, das viele Geld, Jahr für Jahr, angeschmiedet an einen Kontrakt, der mehr Ähnlichkeit mit einer Guillotine als mit einem Stück Papier hat, das ganze Leben ein Kulidienst, die ganze Zukunft umzingelt von Sanktionen und Reparationen, in Wahrheit ein Privat-Versailles; wie es verhüten, daß Geisteswerk und Phantasiegebild nicht zu Ganna-Pfändern und Zahlungssicherheiten erniedrigt werden?

Endlich war man einig. Der Notar wartete bereits. Heckenast ließ Kognak auftragen, man schüttelte einander feierlich die Hände, und als ich an Hornschuchs Seite die Treppe hinunterging, sagte er: »Ich denke, man kann Ihnen gratulieren.« – »Es ist keineswegs sicher, daß Ganna unterschreibt,« erwiderte ich, dem Glückwunsch ausweichend, aber Hornschuch meinte, Herr Heckenast sähe nicht aus als ob er mit sich spassen ließe, und Meister Fingerling brauchte dringend Geld. Auf der Straße ergriff er meine Hand, drückte sie fest und sagte mit seltsamem Schmunzeln, denn er war immerhin stolz auf seinen Sieg: »Tu Geld in deinen Beutel! Viel Geld! Geld für den Fingerling, Geld für den Goldenthal, Geld für Gannas Schulden, Blutgeld, Lösegeld... Haben Sie so viel? Ich stelle mich Ihnen zur Verfügung.« – »Ich habe alles zusammengescharrt, was aufzutreiben war,« sagte ich.

Dieses Gespräch fand um zwei Uhr nachmittag statt. Um vier Uhr erschien Ganna verabredetermaßen mit ihrem Schwager in Dr. Fingerlings Kanzlei. Der Notar war für ebendiese Stunde bestellt. Man hätte denken sollen, die Formalität des Unterschreibens wäre in fünf Minuten erledigt gewesen. Allein es dauerte fünf Stunden, bis es so weit war, daß Ganna unter Schluchzen und strömenden Tränen ihren Namen unter den Vertrag setzte. »Es war wie eine Amputation,« sagte Dr. Fingerling, als er dem Kollegen Hornschuch den gräßlichen Auftritt beschrieb. Um fünf Uhr hatte Ganna noch schreiend beteuert, sie tue es unter keinen Umständen. Nachdem alle eine Stunde lang in sie hineingeredet hatten, schien es als werde sie ohnmächtig, und man mußte sie laben. Um sieben Uhr verlangte sie, daß eine Reihe von Verbesserungen in dem Akt angebracht würden. Unmöglich, wurde ihr bedeutet, man habe sich durch Wort und Handschlag als Unterhändler gebunden. Sie schwor beim Leben ihrer Kinder, sie unterschreibe den Akt nicht, der sie zur unglücklichsten Frau der Welt mache. Sie warf dem Schwager vor, er sei von mir und Bettina bestochen. Sie drohte, sich zu vergiften. Sie erklärte, sie sei das Opfer einer Erpressung. Dem Dr. Fingerling stand der Schweiß auf der Stirn. Heckenast verlor zum ersten Mal die Selbstbeherrschung, packte sie bei den Schultern und brüllte, wenn sie nicht Vernunft annehme, werde er sie in eine Anstalt sperren lassen. Da wurde sie mäuschenstill. Mit scheu flatterndem Blick und gesenktem Kopf setzte sie sich an den Schreibtisch und unterschrieb. Und als sie unterschrieben hatte, seufzte sie aus tiefstem Herzensgrund auf wie eine Sterbende, warf sich in die Sofaecke und heulte zwanzig Minuten lang mit solchen Tönen, daß die drei Männer einander bleich ins Gesicht starrten und nicht wußten, was sie beginnen sollten.

Am andern Tag, dem Tag der gerichtlichen Scheidung, wurde ich dreiundfünfzig Jahre alt. Im Vorraum des Bezirksgerichts ging Ganna auf mich zu und sagte mit schmelzender Stimme und dem reizend-unschuldigen Lächeln ihrer Mädchenzeit: »Ich schenke dir die Scheidung zu Deinem Geburtstag, Alexander.«

Ich blieb stumm, so stumm wie eine Stunde später, als sie mit zitternden Händen die vielen tausend Schilling, die ich auf einen Tisch vor sie hinzählte, in ihrer Ledertasche verstaute. Ich sah gebannt auf die alten, uralten Hände. Hatten sie sich denn nun wirklich geöffnet und mich aus ihrem Griff entlassen? Man wird sehen.

Blick auf den Notariatsakt

Während sich dies abspielte, saß Bettina in Ebenweiler und wartete. Um nicht ganz allein zu sein, hatte sie Lotte Waldbauer gebeten, zu ihr zu kommen. Mittags um zwölf Uhr meldete ihr Hornschuch telephonisch die vollzogene Scheidung. Als sie wieder zu Lotte ins blaue Zimmer zurückkehrte, eilte diese erschrocken auf die Schwankende zu. Aber Bettina brach schon zusammen. »Es war zu teuer,« stammelte sie, »zu teuer erkauft« und verlor das Bewußtsein. Nicht auf Geld und Geldeswert bezog sich dieses »zu teuer«; denn von den Verpflichtungen, die mir aufgehalst waren, erfuhr sie erst am nächsten Tag, als ihr Hornschuch den Scheidungspakt brachte.

Sie las das Dokument mit der ihr eigenen Aufmerksamkeit durch. Dann schwieg sie eine Weile, gesenkten Hauptes. Dann sagte sie leise: »Das ist ja entsetzlich.« Hornschuch machte ein enttäuschtes Gesicht. Er glaubte Dank verdient zu haben. Bettina streckte ihm matt die Hand hin. »Sie müssen nicht denken, daß ich Ihre Mühe und Ihren redlichen Willen verkenne,« sagte sie, »aber was nimmt der Mann auf sich! Wie konnte er das unterschreiben! Ein Mann, der von seiner Gehirnarbeit lebt!« Hornschuch blieb die Antwort schuldig. Er war nicht imstande, jetzt nicht und lange nachher nicht, an der Vortrefflichkeit seiner juristischen Konstruktion zu zweifeln. So sind ja die meisten Männer. Das ist das Spielerhafte und Spielerische an ihnen und ihren Berufen. Die begabten und ehrlichen sind geblendet von ihrer Idee, die geringen und brutalen von Erfolg und Gewinn. So regieren sie die Welt. So sah sie Bettina. Außerdem gab sie sich von Anfang an über die Situation keiner Täuschung hin. Sie wußte mit hellseherischer Sicherheit, daß der Strangulierungsvertrag, wie sie ihn nannte, das Gespenst aus unserm Haus nicht verscheucht hatte. Und sie sagte: »Lieber will ich in einer Holzhütte leben als mit dem Gespenst in einem Palast.«

So peinlich und erkältend es ist, muß ich dennoch, wenn auch mit aller gebotenen Kürze, von den Verpflichtungen sprechen, die mir der nun oft genug erwähnte Notariatsakt auferlegte. Da war erstlich die Bezahlung von Gannas seit Jahren aufgelaufenen Schulden. Sodann hatte ich sämtliche Anwaltshonorare zu tragen; es waren, mit der Nota des Dr. Stanger-Goldenthal und den Kosten des Notariatsaktes zusammen etwa achtundvierzigtausend Schilling. Die regelmäßige Monatsrente für Ganna überstieg wesentlich die Höhe eines Ministergehalts. Dazu kam eine bedeutende Summe, die innerhalb der folgenden drei Jahre zu entrichten war und die als Notfundus für Ganna bezeichnet wurde. Daß ich außerdem für die Erhaltung der Kinder zu sorgen hatte, war gebührlich und hätte in dem Akt nicht als Zwangspflicht erscheinen müssen. Aber Ganna wollte es so, und so wurde ich der Form nach auch zum Tributleister vor meinen Kindern. Ferneres Bedingnis war die Überlassung des von allen Lasten zu befreienden Hauses, das mir vor vierzehn Jahren die Freunde geschenkt hatten und das damit alleiniges Eigentum Gannas wurde. Schön; mit allen diesen Punkten konnte man sich abfinden. Es war eine riesige materielle Bürde; ein Spekulant, ein Bankdirektor, ein Großindustrieller hätten sich vermutlich nicht dagegen aufgelehnt, auch größere Summen hätten sie nicht um den Schlaf gebracht, schließlich, Loskauf ist Loskauf, die bürgerliche Ordnung macht aus der Scheidung ein Geschäft und aus der Freiheit eines Menschen einen Handelsartikel. Schön. Anders verhielt es sich mit den beiden letzten Klauseln: daß Ganna als persönliche Erbin eines Drittels aller Einnahmen aus meinen Schriften und meiner Habe nach meinem Tod eingesetzt und ihr ferner, als Bürgschaft für ihre Bezüge, ein Pfandrecht auf das Bucheggergut im Betrag von hunderttausend Schilling eingeräumt wurde. Die erste dieser Klauseln bedeutete praktisch eine Vermögensentrechtung Bettinas, da ja außer Ganna sich noch vier Kinder in das Erbe teilen mußten; die zweite entwertete den Besitz in Ebenweiler durch die auf ihm haftende Schuld und machte ihn von vornherein unverkäuflich.

Hausschenkung, Pfandrecht und Erbrecht hatten ihre juristische Stütze in dem Ehevertrag, den ich vor fünfundzwanzig Jahren, ihr erinnert euch, willfährig unterschrieben hatte. Jetzt erfuhr ich endlich, was es mit der sogenannten Widerlage auf sich hatte: daß ich nämlich im Fall der Ehetrennung die Mitgift von achtzigtausend Kronen nicht nur einfach zurückzuerstatten hätte, sondern doppelt. Und dieses verdoppelte Kapital belief sich aufgewertet auf zweimalhunderttausend Schilling. Ihr werdet zugeben, daß der Kral seinen Vorteil wahrgenommen hatte. Es war ihm gelungen, den Tölpel, der ihm in strafwürdiger Arglosigkeit ins Garn gelaufen war, nach allen Regeln der Kunst über den Löffel zu halbieren. Achtung und Ehre dem Kral. Eine Kniebeuge vor dem Zeitalter der Sicherheiten. Ganna ist wahrlich nicht zu Schaden gekommen bei ihrem Beutezug in die Gefilde der Literatur und des »höheren Lebens«, und indes Bettina und das Caspar Hauserchen sehen mögen, wo sie bleiben, Bettler in absehbarer Zukunft, wird Ganna auf ihren Sicherheiten friedlich schlummern wie auf einem Kissen von Rosenblättern. Oder nicht? Ich weiß, es ist der Gipfel des Unglaubwürdigen: aber all diese »Sicherheiten« dienten nur dazu, ihr Leben und damit das meine bis zur gänzlichen Zerfetzung zu verheeren.

Geld

Zunächst erging es mir so, daß mich die Geldpeitsche spornte, ohne mir sichtbare Wunden zu schlagen. Meine Arbeitskraft vervielfachte sich. Die Erlebnisse der letzten Jahre hatten mich so grausam mitgenommen, daß sie im Geistigen und Seelischen etwas wie Erneuerung bewirkt und auch mein Weltbild verwandelt hatten. Man braucht ja nur einen einzigen Menschen durch und durch leidend zu erfahren, und er wird die Quelle und der Brennpunkt alles Wissens vom Menschen überhaupt. Was uns innerlich verzehrt, das wird unser Stoff, wenn wir stark genug sind, uns trotzdem zu bewahren. Fast jede Krankheit verfeinert den Organismus. Ich ließ mich nicht mehr von der süßen Willkür des in einer Phantasieferne weilenden Geistes leiten, sondern ergab mich dem Ruf der Gegenwart, der in meine Einsamkeit gebieterischer drang als wenn ich im Weltgewühl gewesen wäre. Zudem war mir vom Schicksal die Gabe verliehen worden, daß ich mich in den Stunden der Arbeit abriegeln konnte gegen Drangsal und Sorge, um allerdings dann, wenn die Sperrketten fielen, wenn ich sozusagen wieder Mensch unter Menschen wurde, mit einer durch die Abkehr gesteigerten Heftigkeit der Furcht, der Existenzangst, der bösen Ahnung zu erliegen.

Die Scheinruhe, die Bettina und ich in den ersten Zeiten unserer Ehe genossen, täuschte uns über die drückenden Verpflichtungen hinweg, mit denen sie erworben war. Um sie erfüllen, daneben unsere eigene Existenz bestreiten und die Raten an den Niederländer, wie auch die an den Freund leisten zu können, der mir zum Erwerb des Bucheggerguts verholfen hatte, von den Steuern zu schweigen, mußte ich jährlich eine ganz gewaltige Summe aufbringen, und obwohl ich in den ersten beiden Jahren durch die außerordentliche Gunst der Umstände und infolge eines wahren Schaffensrausches sogar mehr verdiente, sah ich mich doch alsbald in Bedrängnis und war genötigt, zu wucherischen Zinsen ein beträchtliches Darlehen aufzunehmen.

Da die Einnahmen anfangs mit dem Bedarf Schritt zu halten schienen, geriet ich in die Stimmung eines Glücksspielers, der, seiner Chance vertrauend, immer höhere Einsätze wagt, oder eines Menschen, der so tief verschuldet ist, so viele Wechsel auf die Zukunft ausgestellt hat, daß er in seiner Wirtschaftsgebarung jede Vorsicht vergißt, stumpf wird gegen den wachsenden Verbrauch und jeder inneren Mahnung zur Sparsamkeit mit Trotz begegnet. So verbreiterte ich mein Leben, führte ein Haus, vergrößerte meine Bibliothek, kaufte ein Auto und unternahm mit Bettina weite Reisen. Die bedenkliche Folge davon war, daß Ganna, die von alledem natürlich genaueste Kunde erhielt, sich immer mehr in die Vorstellung hineinlebte, daß ich im Besitz ungemessener Mittel sei, daß man sie darüber gröblich getäuscht und sie durch den Scheidungsvertrag tückischerweise der Möglichkeit beraubt habe, des ihr nach Fug und Recht zukommenden Anteils habhaft zu werden.

Für meine damalige Beziehung zum Gelde ließe sich die paradoxe Formel prägen: selbstsüchtige Gleichgültigkeit. Wie alle aus der Armut Emporgestiegenen hing ich an den Genüssen und Vorteilen, die das Geld verschafft, aber ich liebte es nicht nur nicht, ich verachtete es. Das heißt, ich verachtete es, wenn ich es hatte und konnte mir dann den Zustand des Nichthabens nicht ausmalen. Ich war nie gierig gewesen, aber auch nie sorglos. Ohne daß ich luxuriös veranlagt war, machte mir eine gewisse dumpfe Sinnlichkeit, wo es sich um eingelebte Bedürfnisse handelte, den Verzicht überaus schwer.

Anders Bettina. Sie liebte das Geld weder, noch verachtete sie es. Ihrem gesunden Tatsachensinn bedeutete es ein Mittel zur Befriedigung des Notwendigen. In mancher Hinsicht freilich auch des Überflüssigen, insofern es sich als Schönheit kundgab, als jenes Maß in der Einfachheit, das mehr Nachdenken und Aufwand verursacht als aller Prunk. In den Jahren, da ich es unterließ, sie in meine Verhältnisse einzuweihen und sie, teils um mich nicht noch ärger zu beschweren, teils betört von meiner Schaffenswut, sich der Befragung und Zügelung enthielt, gab sie sich mit heimlichem Trotz, ebenso wie ich, der Illusion einer unversiegbaren Fülle hin. Sie schmückte sich, schmückte ihr Heim, schmückte den Garten und war glücklich, wenn sie sich mit schönen Dingen umgeben konnte, die sie mit Verständnis auswählte, denn sie hat ja die unbestechlichsten Augen von der Welt. Gäste bei sich zu sehen, bereitete ihr die größte Freude, und es waren meistens die alten Freunde, die sie bewirtete; an ihnen hing sie mit dankbarer Treue. Nie war sie unbescheiden und vorgreifend im Wunsch oder gar im Habenwollen. Das Haben machte ihr garnichts aus. Wissen, daß es da war, das Schöne, es in sich aufnehmen und reicher werden, nicht sich bereichern damit, das war ihre Art von Besitzen, und im übrigen gehörte sie mit Leib und Seele der Musik und unserm Caspar Hauserchen.

Bis dann alle diese schillernden Träume von Schönheit, Frieden und Kunst zerplatzten und uns die schreckensvolle Wirklichkeit anglotzte wie eine Hyäne, die unter der Bettstatt hervorgekrochen ist.


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