Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Bevor Kerkhoven nach Luzern gefahren war, hatte er mit Marie und Schwester Else beraten, wo man die Herzogs unterbringen sollte. Man hatte sich dafür entschieden, ihnen den kleinen Pavillon an der Seeseite des Parks einzuräumen; dort würde Alexander Herzog mehr Ruhe haben als im Hauptgebäude. Ungestörte Ruhe tat ihm vermutlich not. Außerdem war drüben auch für den kleinen Helmut genügend Platz. Die Mahlzeiten konnte man hinüberschicken, falls sie es vorzogen, für sich zu sein.

Es war ein wolkenloser Nachmittag, als Kerkhoven mit Alexander, Bettina und dem Bübchen in Seeblick ankamen. Das Quartier schien ihnen zu gefallen; vier aneinanderstoßende Räume, zwei Schlafzimmer, ein Badezimmer, ein Wohn- und Arbeitszimmer und oben in der Mansarde das Zimmer für den Buben. Weiße Wände, lichte Möbel, bunte Kretonnevorhänge, ein paar chinesische Stiche und altertümliche Portraits ergaben einen anheimelnden Gesamteindruck. Auf dem Rasen vor den Fenstern stolzierte ein Pfau. Am Ufer stand eine Schaukel, deren Viereck sich scharf gegen den blauen Himmel abzeichnete. Auf dem Schwebebrett saß Aleid im Schwimmanzug und schwang sich lässig hin und her. Über den ultramarinblauen See glitten Boote mit weißen Segeln. Durch die Krone der Buchen und Kastanien schimmerte zitronengelb die Fassade des Hauptgebäudes.

Helmut wurde sofort mit Johann und Robert bekannt gemacht. Nach einer halben Stunde waren sie dick befreundet.

Es hatte keiner besonderen Anstrengung bedurft, um Alexander Herzog zu bewegen, nach Seeblick zu gehen. Als Kerkhoven in dem Luzerner Hotel, wie aus der Versenkung emporgetaucht, an dem Tisch stand, wo er mit Bettina Platz genommen, war er nicht einmal überrascht gewesen. Kerkhoven hatte ihm mit einer Herzlichkeit die Hände geschüttelt als ob er nach Jahren der Trennung den liebsten Freund wiedersähe. Das hatte ihn wohltuend berührt und seinen Argwohn eingeschläfert. Und als Kerkhoven den Zufall pries, der ihn gerade heute zu einer Konsultation nach Luzern geführt, war er vollends beruhigt. Im Verlauf eines lebhaften Gesprächs fühlte er sich, genau wie damals in Ebenweiler, mit elementarer Macht zu dem Manne hingezogen. Nur zu gern fügte er sich in seinem Innern einem überlegenen Beschluß, wenn ihm dadurch die Mühe der Selbstbestimmung erspart blieb, und so widersetzte er sich nicht mehr, als Kerkhoven unter Bettinas stummen Einverständnis einen Aufenthalt in Seeblick von zunächst noch unbegrenzter Dauer für ratsam erklärte.

Die Fahrt war bei der Hundstagshitze ziemlich anstrengend gewesen. »Wir wollen den Tee unten auf der Terrasse nehmen,« schlug Kerkhoven vor. Sie gingen hinunter. Als der Tisch gedeckt war, erschien auch Marie. Sie sah blaß und müde aus, doch die Freude, Herzog und Bettina bei sich begrüßen zu können, verbreitete über ihre Züge einen festlichen Glanz, der sie schön machte. Sie trug ein teerosengelbes Kleid von einfachem Schnitt und um den Hals eine rote Korallenkette mit einer alten Gemme. Bettina war noch in ihrem braunen Reisekostüm. Ihr Wesen war entspannt wie das eines Menschen, der sich nach einer langen Periode der Gefährdung endlich unter sicherem Schutz befindet. Mit ihrem hellen gewinnenden Lachen, das alle ansteckte und selbst den bärbeißigsten Zuhörer zum Lächeln gezwungen hätte, erzählte sie von der verrückten Hetzjagd in dem gemieteten Auto. Wie sehr sie darunter gelitten hatte, konnte ihr niemand anmerken. Marie spürte es jedoch in jedem Ton und Wort. Sie hörte aufmerksam zu. Für eine halbe Stunde vergaß sie ihren Kummer. Eine stürmische Sympathie regte sich in ihr. Bettina empfand es dankbar in allen Nerven und erwiderte das Gefühl augenblicklich. Warum kommt sie mir nur so bekannt vor? dachte sie, während sie angeregt eine Episode erzählte, in der Alexander eine ziemlich komische Rolle spielte, wo hab ich es schon gesehen, dieses liebe Gesicht? Dabei wußte sie bestimmt, daß sie es noch niemals gesehen hatte.

Kerkhoven betrachtete Bettina immer wieder, und indes er ihr zu lauschen schien, stellte er bei sich fest, daß es nicht leicht ein Gesicht gab, in welchem sich die momentanen Stimmungen und Erlebnisse mit solcher Treue und Schärfe spiegelten. Schmerz, Trauer, Mutlosigkeit, Unlust jeder Art, die heftigste Reizbarkeit, ein schwärmerisches Phantasieleben, eine fast wahrnehmbare Abhängigkeit von Traum, von innerem Bild, von unbewußten magischen Kräften der Seele; die Tiefe des Auges, das Ausweichende und Flüchtende des Blicks, der Pessimismus um den weichen Mund, der kindlich sanguinische Zug um die Nase, die Jugendlichkeit der Reflexe und Vibrationen, verbunden mit dem Ausdruck uralter Erfahrung, uralter Weisheit beinahe, all das wirkte wie aus vielen Gesichtern zusammengesetzt, wie die kühne Vision eines lionardesken Zeichners und hatte dabei doch die Einheitlichkeit der unverkünstelten Natur. Was Alexander Herzog betraf, der schweigsam dasaß, so waren Kerkhovens Gefühle gegen ihn bisher ein wenig zwiespältig gewesen; eine fast zärtliche Zuneigung hatte mit einem verhehlten Argwohn gewechselt, jenem vorsichtigen Abwarten, das ein Gegner oder Gegenspieler erregt, der eigentlich ein Bruder ist. Jetzt war ihm plötzlich zumute als hätten ihm die Mächte einen Beweis höchsten Vertrauens gegeben, indem sie ihm diesen Menschen zugeführt und unter seine Obhut gestellt hatten und als riefe ihm eine Stimme zu: von nun an kannst du keinen Schritt mehr gehen, den du nicht in Gemeinschaft mit ihm gehst.


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