Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Das Zusammentreffen des Verlusts seiner Lebensarbeit mit dem Umschwung der öffentlichen Meinung konnte natürlich Zufall sein. Aber an solche Zufälle glaubte Kerkhoven nicht. Daß die äußere Welt, die Welt der Tatsachen, der Greifbarkeiten und Sichtbarkeiten den Einflüssen der »inneren Sternenbahn« unterlag, war ihm nicht im mindesten zweifelhaft. Das Schicksal, diese unerforschliche Verbindung von Kollektivgeschehen und Einzelbewegung, funktionierte im Großen und im Kleinen wie ein gewichteausgleichendes Räderwerk, und seine moralischen wie seine sinnlichen Wirkungen zielen immerdar darauf ab, die Gleichlage zwischen allem Tun und Leiden herzustellen. Kein Mensch könnte existieren ohne die ungewußten Entschädigungen, die ihm durch das geheimnisvolle Ineinandergreifen jener organisierten Lebensmächte gewährt werden.

Dies wußte er tief. Dennoch hatte er den Schmerz um den Verlust nicht verwunden. Er hätte ihn eher tragen können, wäre nur das Weberschiffchen noch seinen alten Gang gelaufen; aber der Faden wurde dünn und dünner; der Vorrat ging zu Ende. Und niemand durfte es wissen. Schlimm genug, daß es Alexander Herzog wußte; was war ihm eingefallen, sich einem Mann zu eröffnen, den eine so innige Freundschaft mit Marie verband. Er hatte Stunden, da er sein eigenes Gefühl für Alexander Herzog unterdrückte, von der Furcht gequält, dieser könne ihn an Marie verraten. Wenn Marie erfuhr, daß er, Joseph, wissend den Tod in sich trug, war das Unglück nicht zu ermessen. Es war dasselbe wie wenn von zwei Bergsteigern, die an einer steilen Wand aneinandergeseilt sind, der untere stürzt und den oberen mit sich reißt. Er hatte sie ja erst noch hinaufzuführen; das letzte, allerletzte Stück war noch zu erklimmen; sein Tod und der Gipfel oben mußten in ihrem Geist zu eins verschmelzen; es durfte ihr nicht zur Katastrophe werden, es mußte Vollendung sein; keine Veränderung der Substanz, nur eine der Berührung. Er hatte noch nicht die Zeit gehabt, sie vorzubereiten; sie war noch nicht so weit über der Erde wie er; ihr schwindelte noch vor dem Abgrund, sie war noch von der vermeintlichen Tragik des Todes umschattet. Es gab aber keine andere Vorbereitung als den schweigenden Aufstieg an der steilen Wand.

Eines Abends nahm er Alexander beiseite und bat ihn nochmals um das feierliche Gelöbnis seiner Verschwiegenheit. »Sie wissen ja, was ich meine,« fügte er hinzu. – »Daß sie es zum zweiten Mal von mir fordern, Joseph, zeigt mir erst, wie schwer ich mich gegen Sie vergangen habe,« antwortete Alexander Herzog. – Der Rückschluß war unerwartet für Kerkhoven, obschon er eine große Kraft und Zartheit der Empfindung bekundete. »Ich leugne nicht den Zusammenhang,« sagte er; »was hilft alles Reden, Sie haben in der Tat unschuldig eine Schuld auf sich geladen. Vielleicht nicht einmal so ganz unschuldig. Vielleicht... na, lassen wir es lieber. Doch merken Sie wohl, lieber Freund, einziger Freund, möchte ich sogar sagen, denn außer Ihnen habe ich keinen mehr: es ist nichts geschehen, nichts zwischen uns, nicht das Geringste, wenn... wenn Sie Ihre ganze Phantasie- und Menschenmacht aufbieten, um in mir und meinem Tod eine Stufe zu sehen.« – »Eine Stufe wozu?« fragte Alexander erschüttert. – Kerkhoven lächelte. »Diese Frage habe ich nicht von Ihnen erwartet,« versetzte er.


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