Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

148

Von einer Pflegerin begleitet, kam Lili Meeven an. Sie war eine verblühte Vierzigerin mit ungemein lebhaften Gesichtszügen, die an ihren guten Tagen noch eine mädchenhafte Frische besaßen. Ihr strähniges blauschwarzes Haar war ungepflegt und hing wirr über die Stirn, bis zu den großen stumpf-schwarzen Augen herab. Sie war zierlich von Gestalt und sprach mit einer rauhen Männerstimme. Das Absonderlichste an ihr war ihre Kleidung, die an eine Heilsarmeeschwester erinnerte. Alles war zerdrückt, fadenscheinig, geschmacklos und ostentativ vernachlässigt. Gattin eines vermögenden Mannes und reich dotiert, tat sie als ob sie nicht die Mittel hätte, sich ein Paar Handschuhe zu kaufen.

Nur in der Unordnung schien sie sich wohl zu fühlen. Als die Pflegerin ihre Kleider, Wäsche, Schuhe im Schrank und in den Kommodeladen untergebracht hatte, riß sie alles wieder heraus, weil sie ein Paar alte Pantoffeln nicht fand, und warf die Sachen zornig-achtlos auf das Bett und die Stühle. Den größten Teil des Tages verbrachte sie mit Schreiben. Sie hatte Stöße von Tagebüchern; jeden dritten Tag war ein Heft vollgeschrieben. Außerdem schrieb sie zahllose Briefe, einmal fünfzehn auf einen Sitz. Kraft seiner ärztlichen Befugnis kontrollierte Kerkhoven die Korrespondenz, bevor sie der Post übergeben wurde. Alles was sie schrieb, hatte Hand und Fuß, ja, es war im einzelnen voller Scharfsinn. Die stilistische Gewandtheit und Ausdrucksfähigkeit waren bemerkenswert. In den Briefen an ihren Gatten wechselte Zärtlichkeit mit verbissener Gehässigkeit. Auf leidenschaftliche Liebesergüsse folgten die bittersten Vorwürfe, daß er sie ihrer Ideale beraubt und ihr Leben ruiniert habe. Begründet waren die Anklagen nicht. Doch aus den Gesprächen mit ihr erfuhr Kerkhoven, daß sie sich für eine geborene Tänzerin hielt; der Mann war nach ihrer Ansicht schuld daran, daß ihr die künstlerische Karriere verschlossen geblieben war. Dabei hatte sie niemals im Leben getanzt, noch das Tanzen erlernt; sie sprach sich nur das Genie zu und phantasierte von den Triumphen, die sie ohne die Ränke gewisser Leute und ohne die Bosheit des Schicksals geerntet hätte.

Wenn sie diesem Traum eine Weile nachgehangen hatte, zog sie sich splitternackt aus und hüpfte auf lächerliche Weise im Zimmer herum. Die Anwesenheit von Frauen genierte sie nicht, sonst war sie prüde wie eine Methodistin. Und zu diesen Übungen sang sie mit hohler Stimme, die langsam anschwoll und in alle Räume des Hauses drang, eigentümlich feierliche Gesänge, geistlichen Liedern ähnlich.

Eine verwirrende Unruhe ging von ihr aus. Das düstere Geheul, das sie zu ihren Tanzexerzitien vollführte, war für alle, die es anhören mußten, eine Nervenfolter. Bat man sie, den Unfug einzustellen, so entrüstete sie sich und berief sich auf die Unsummen, die sie für ihren Aufenthalt bezahlte. Unablässig schmälte und zeterte sie, bald mit Schwester Else, weil das Essen nicht pünktlich auf den Tisch kam, weil der Tee zu dünn, die Schokolade zu dick, die Suppe zu heiß, der Braten zu kalt war, oder mit ihrer Gesellschafterin, von der sie sich bespitzelt wähnte. Eines Tages, als sie das ganze Zimmer nach ihrem Diamantring durchsucht hatte, der sich dann in der Schmutzwäsche in einem zerrissenen Strumpf fand, gab es sogar einen widerlichen Auftritt mit Diebstahlbeschuldigung. Alle Frauen behandelte sie niederträchtig, besonders dienende, aber wenn Kerkhoven nur das Zimmer betrat, wußte sie sich vor Liebenswürdigkeit nicht zu lassen, und seit sie vernommen hatte, daß Alexander Herzog in Seeblick wohnte, lag sie Kerkhoven so lange in den Ohren, er möge sie mit ihm bekannt machen, bis er es ihr (nicht ohne Hintergedanken) versprach. Sie hielt sich nicht nur für fehlerlos, sondern für das Muster und die Krone aller Weiblichkeit. Frau de Ruyters hatte in ihrem Brief keinen Hehl daraus gemacht, daß sie ihren einzigen Sohn in Grund und Boden verzogen hatte; er war in ganz Amsterdam als Nichtsnutz und Herumtreiber verrufen, desungeachtet sprach sie von ihm wie von einem Ministeranwärter, schrieb ihm sehnsüchtige Episteln und schickte ihm heimlich Geld. Sie hatte nie Unrecht, nach ihrer Meinung nie; sie konnte auch nicht Unrecht haben, da ihr der Begriff des Rechtes völlig abging und ihr Verhältnis zur Umwelt von einer ungemessenen Selbstverherrlichung bestimmt wurde.

Alles dies war keineswegs Wahnsinn oder Geistesstörung. Bei jeglichem Tun hatte sie sich gerade noch so weit in der Gewalt, daß sie die Folgen übersehen konnte. Sie war außerordentlich verschlagen. Sie hatte die Schlauheit derer, die an der Grenze der Norm stehen und sich wohlweislich hüten, die Grenze zu überschreiten, weil sie genau wissen, daß sie dadurch zu Schaden kommen, entweder durch den Verlust ihrer Freiheit oder durch andere Zwangsmaßnahmen. In diesem Betracht lag einfach eine Charakterentartung vor. Eine solche kann nicht »geheilt« werden, und dieses Defekts wegen hatten sie auch ihre Verwandten nicht zu Kerkhoven geschickt. Ihr wirkliches Leiden bestand in einer Suggestions-Hysterie, und zwar in einem Ausmaß, wie sie Kerkhoven kaum je beobachtet hatte, bis zu motorischen Anfällen und den sogenannten großen Attacken mit Krämpfen, Spasmen, hysterischer Aphonie und Stigmatisierungen. Und seltsamerweise hatten die schweren Erscheinungen bei ihr mehr als bei jedem andern Kranken dieser Art einen stark hervortretenden Zug von Hexenhaftigkeit. Indem sie jede Krankheit, die sie sich einbildete, vollkommen täuschend nachzuahmen vermochte, ohne daß sie die Anzeichen kannte, einen Ausschlag, ein Ödem, eine Eiterung, eine Muskelentzündung mit einundvierzig Grad Fieber, eine Magenblutung, eine Lidgeschwulst, wurden diese körperlichen Bekundungen förmlich zu Lügen der Natur. Die Krankheit war augenscheinlich, und trotzdem war sie nur Schein. Sie wies alle Merkmale auf, durch die sie benennbar und nachweisbar wurde, und war gleichwohl, im wahrsten Sinn des Wortes, ein Hirngespinst. In früherer Zeit, vor einem halben Jahr noch, hätte Kerkhoven das Leiden behandelt, wie es ihm Kenntnis und Erkenntnis vorschrieben, da es sich ja dem Wesen nach von zahllosen ähnlichen Fällen, mit denen er sich zu beschäftigen hatte, nicht unterschied. Aber jetzt sah er durch das täuschende Gewebe, durch die Maschen zwischen Wollen und Erliegen, Qualsucht und Qualwonne, Blutszwang und Blutslist hindurch bis auf den Urgrund: bis in die hoffnungslose, gottverlassene Nacht auf der andern Seite, in der diese Lili und alle ihre Schicksalsschwestern vergeblich nach einem Lichtstrahl Ausschau hielten.


 << zurück weiter >>